Grisocomodo
  Motor-Rad-Reisen

Ausreißversuch

Auf den letzten Kilometern


...ging es deutlich rauer zu als bisher. Das Tempo ist deutlich härter als am Vormittag. Die Straße ist alten Zuschnitts und bereits mit zwei modernen Autos gut ausgefüllt. Für Radfahrer ist nicht wirklich Platz. Ich erhöhe mein Tempo und beginne mich zu behaupten. Immerhin schlängelt sich die Straße durch eine Art Naherholungswald und ist an sich ganz nett zu fahren. Die Sonne blinzelt hin und wieder durch das dichte Blätterdach. Es wird immer wärmer. Und schwüler.


Kurz nach Verlassen des Waldes empfängt mich ein Ortseingangsschild. Berlin – Spandau. Fast am Ziel. Aber noch sind es rund 18 Kilometer bis zum Brandenburger Tor, mein eigentliches Ziel. Neben dem freundlichen Berlin Schild empfangen mich auch dunkle Wolken im Südosten. Sehr dunkle Wolken. Und sie ziehen in meine Richtung! In Verbindung mit der schwülen Luft verheißen sie nichts Gutes.



Schlussspurt

Ich versuche das Tempo hoch zu halten. Mich packt der Ehrgeiz, mein Ziel trocken zu erreichen. Die Infrastruktur macht es mir jedoch nicht leicht. Mal gibt es für ein paar hundert Meter einen nagelneuen Radweg mit einer super Oberfläche, mal gibt es rumpelige Gehwegplatten mit unklarer Radwegführung.


So ist das Fahren nervig und wenig effektiv. Meine Entscheidung auf der Straße weiter zu fahren, wird nicht von allen Autofahrern geteilt und es entsteht eine Art Rennen. Geschwindigkeit begegnet man am besten mit Geschwindigkeit. Offensives Mitschwimmen ist da meiner Erfahrung nach die beste Methode. Was sich in London, Paris, Tirana oder Istanbul bewährt hat, funktioniert auch in Berlin. Also ziehe ich mit über 30 Stundenkilometern meine Bahn.


Plötzlich schießt ein Taxi von rechts aus einer Seitenstraße und nimmt mir die Vorfahrt. Ich muss wirklich sehr hart bremsen, um einen Aufprall zu vermeiden. Die Avid 7 BB Road funktioniert in diesem Moment wirklich in höchstem Maße zuverlässig. Der Taxifahrer ist selber erschrocken. (Ich glaube, auf dem Radweg hätte er mich wohl erwischt.) Er gibt aber sofort wieder Gas, ohne eine entschuldigende Geste.
Ich trete kräftig an und jage ihm irgendwie instinktiv hinterher. Er beobachtet mich im Rückspiegel und wirkt sichtlich nervös. Vor allem als er merkt, mich nicht abschütteln zu können. Beide versuchen wir einen Ausreißversuch. An der ersten roten Ampel versucht er noch stur geradeaus guckend, mich zu ignorieren. An der zweiten roten Ampel wird ihm klar, dass ich gar nichts von ihm will und deutet eine Entschuldigung an, die ich annehme. An der dritten Ampel grinsen wir uns angesichts unseres Privatrennens an. Erst an der sechsten Ampel verlieren sich unsere Wege in unterschiedliche Richtungen. Immerhin winkt und hupt er mir freundlich zu.


Die Gewitterwolken sind noch immer da, aber sie scheinen mir nun nicht mehr gefährlich werden zu können. Ich wechsle vom Fahrradkurier Modus in einen eher touristischen. Der Speed der letzten Kilometer erforderte eine Trittfrequenz von 100 bis 120 Umdrehungen pro Minute. Mangels Schaltmöglichkeit kann ich ausschließlich über die Frequenz schneller werden. Ich bin auf einem Single Speed Rad unterwegs. Nun geht es aber wieder kommod weiter.


Die Idee zur Tour

Die eher puristische Art des Radreisens ist ohnehin meine bevorzugte Art mit dem Rad zu reisen. Seit längerem beschäftigt mich der Gedanke, mal mit nur einem Gang unterwegs zu sein. Antriebstechnisch puristischer geht es ja kaum. (Außer per Starrgang.)

Lars Amenda vom Altonaer Bicycle Club e.V. hält Anfang Mai einen Vortag über Gregers Nissen (1867-1942), an dessen Biographie er zur Zeit arbeitet.
In der Vortragsankündigung heißt es u.a.:“Gregers Nissens Name ist heute weitgehend vergessen. Dabei war er ein bedeutender Fahrradpionier und propagierte wie kaum ein anderer in Deutschland die Vorzüge des „Radwanderns“…“. „Seine Reisebeschreibungen…waren sprichwörtlich wegweisend und portraitierten Land und Leute. Als Funktionär im Deutschen Radfahrerbund bemühte er sich unermüdlich um bessere Bedingungen für Radreisende und setzte sich für gute Radwege in der Stadt und auf dem Land ein.“

Gregers Nissen (rechts) 1928 in Spanien
(Foto Archiv Lars Amenda)

 


Andreas Thier am Plöner See 2017


Die Ausführungen von Lars sind total interessant und spannend. Da darf man auf die Biographie gespannt sein. Wirklich klasse sind auch die alten Fotos, die er präsentiert. Es fällt sofort auf, mit wie wenig Gepäck die Altvorderen auf Tour gingen. Das alles hat wohl eine äußerst inspirierende Wirkung auf mich. Das möchte ich wirklich mal ausprobieren. Tourenfahren wie früher, ohne die technische Raffinesse von 3 x 11 Schaltungen. Wie wird das wohl sein, nur mit einer einfachen Übersetzung unterwegs zu sein? Ich bin gespannt!


Die Planung der Tour

Die Rahmenbedingungen stehen fest und die Planung der Tour ist schnell erledigt. Es soll ein Wochenende ohne zusätzliche Urlaubstage sein und ich will nicht im Kreis (Start=Ziel=Zuhause) fahren. Das Ziel soll ans Bahnnetz angeschlossen sein, sodass eine einigermaßen rasche Rückkehr möglich ist.

Der Aktionsradius entspricht zweieinhalb Fahrtagen, da am Freitag noch etwas Arbeit ansteht. Grob überschlagen sollten sich 400 Kilometer realisieren lassen. Innerhalb dieses Zirkelschlages entpuppt sich Berlin als das interessanteste Ziel.
Die Fahr-Formel lautet: Am Freitag mit dem Rad zur Arbeit und anschließend weiter. (Das passt von der Richtung.) Samstag eine komplette Etappe und am Sonntag eine dreiviertel Etappe, um noch Zeit am Ziel zu haben. Zurück soll es am Montag mit einem ganz frühen Zug gehen. Dadurch könnte ich gegen 09:30 wieder bei der Arbeit sein.


Retro

Neben dem Purismus spielt sicherlich auch der ein oder andere Retro Gedanke eine Rolle.
Dabei geht es mir nicht darum rückwärtsgewandt das Gestrige zu huldigen, sondern mich reizt vielmehr die   tragfähige Kombination von besten Eigenschaften. (Was natürlich nur meiner eigenen Bewertung entspricht).


Ich mag mein Rad mit moderner Geometrie und Scheibenbremsen. Und ich mag ganz doll die klassischen Rahmenrohre aus Stahl. Die britischen Carradice Gepäcktaschen sind nicht nur aus Baumwolle, sondern auch verblüffend regenfest. Und mir sind noch keine robusteren Gepäcktaschen begegnet. Dennoch verzichte ich nicht auf meine Dreilagenregenjacke und den GPS-Navigator (wenngleich immer eine Übersichtskarte 1:500.000 als Backup dabei ist.).


Kurzum, mich reizt die Kombination von Tradition und Moderne. Auch wenn die Form der Funktion folgt, darf sie dabei gut aussehen. Und ein bestimmter Stil spielt vielleicht doch auch eine kleine Rolle.


Die Tour

Den Spruch mit dem frühen Vogel, fand ich schon immer blöd. So auch an diesem Morgen. Aber es nützt nichts. Um dem Freitag auch noch etwas Arbeitszeit realisieren zu können, gehe ich früh auf die 52 km lange Strecke zum Schreibtisch. Also richtig früh! Die aufgehende Sonne muntert die Lebensgeister auf und taucht den Hafen von Eckernförde in ein wundervolles Licht.


 Morgenstimmung im Hafen von Eckernförde

 

Einige Stunden des Wuselns und ein Kantinenessen später verlasse ich den Firmenhof. Im Regen. Na toll! Nach Passieren des Zentrums von Kiel geht es weiter in Richtung Südosten. Es ist bemerkenswert, wie schlecht es um die Radinfrastruktur der Landeshauptstadt bestellt ist. Die Radwege sind durchweg von miserabler Qualität. Immerhin hört es auf zu regnen. Nach anfänglichem Zögern verschwindet die Regenjacke dann doch in der Lenkertasche.


Die Holsteinische Schweiz trägt ihren Namen zu Recht, was ich mit dem Singlespeed Rad deutlich zu spüren bekomme. Vor ernsthafte Probleme stellen mich die Steigungen aber nicht. Zudem kommt nun sogar die Sonne heraus. Radeln pur.


Am Plöner See


In Plön bieten sich nette Ausblicke auf den See und in der Schlossstadt Eutin gönne ich mir einen halben Liter Kakao. Etwas später entdecke ich verblüfft ein Hinweisschild „Berlin 6 km“. Bei der Weiterfahrt erkundige ich mich bei einem älteren Herrn auf einem noch älteren Rad nach der Kuriosität. Das Dorf Berlin feierte 2015 das 800jährige Bestehen und gilt als das älteste Berlin der Welt, wie er mir zwinkernd berichtet. Viele Straßennamen seien an Hauptstadtstraßen angelehnt. Einen ‚Potsdamer Platz‘ gäbe es ebenso wie die Durchgangsstraße ‚Unter den Linden‘.


Nach weiteren diversen Hügeln erreiche ich mein Tagesziel, Lübeck. Das hat ja schon mal gut geklappt. Der Abend ist lau und eine mediterrane Lebensart pflegend, sitzen die Leute im Freien vor den Restaurants und Bistros. Nach insgesamt 127 km erreiche ich meine Unterkunft und bin sehr zufrieden. Ebenfalls ganz mediterran suche ich eine Pizzeria auf. Der Laden sieht ganz nett aus. Aber für die Lasagne, die mir serviert wird, würde man In Italien dem Koch wohl ein paar Betonsandalen verpassen, bevor man ihn im mediterranen Meer baden würde… - Aber egal. Die Akkus werden in jedem Fall aufgefüllt.


Samstag

Das wirklich gute Frühstück am folgenden Morgen genieße ich daher umso mehr. Wie schön es ist, wieder auf Tour zu sein. Obwohl es erst der zweite Tag ist, scheint mir der Abstand zum Alltag schon bemerkenswert groß. Die Hansestadt Lübeck weist eine deutlich bessere Fahrradinfrastruktur auf, als die Landeshauptstadt. Und so komme ich schnell aus der Stadt heraus und in meinen Überland-Rhythmus hinein.
Radfahren auf mittleren und langen Strecken hat für mich auch immer etwas Kontemplatives. Meine Gedanken kreisen um das Tourenradfahren zu Zeiten von Gregers Nissen. Was hat die Radler damals losziehen lassen? Wie war es für sie, unterwegs zu sein? Hielt man sie vielleicht für extravagant oder gar für vagabundierend? Und überhaupt – wie war es früher so, mit dem Rad auf Tour zu sein? Manche Antworten liegen buchstäblich auf der Straße. Denn die eine oder andere Ortsdurchfahrt hilft dem Einfühlen mit grobem Kopfsteinpflaster. Die Fragen machen mich dennoch immer neugieriger und ich beschließe, mir Nissens Biographie zuzulegen, um noch besser in die Welt von damals eintauchen zu können.


Nostalgischer Straßenbelag


Meine Route führt mich konsequent und nahezu geradlinig durch das ländliche Mecklenburg-Vorpommern in Richtung Südost. Die Frage nach den Distanzen und Geschwindigkeiten von früher hat einen absolut praktischen Hintergrund. Denn ich begegne auf meiner Route ausgesprochen wenigen Möglichkeiten der Versorgung. Das ist es klug, bei ‚Klug’s Backstube‘ eine Rast einzulegen. Wie löste man das Problem früher? Sicherlich gab es in den Dörfern eher mal Einkaufsmöglichkeiten. Oder man hat vielleicht direkt bei Bauernhöfen nach Essbarem gefragt. Aber die Überwindung der Distanzen zwischen den Dörfern  hat bestimmt auch mehr Zeit in Anspruch genommen.


Verpflegungsstation


Für mich läuft es dagegen richtig gut. Ein mäßiger Wind aus Ost (also von vorne links) lässt sich nicht leugnen, aber dafür wird das Gelände immer flacher. Die Routenwahl beschert mir eine Fahrt durch ländliche Gegenden und über asphaltierte Wirtschaftswege sowie über schmale, kaum befahrene Landstraßen.


Ich genieße die grünen Aussichten und hänge vielerlei Gedanken nach, die im Alltag zu oft an den Rand gedrängt werden. Fast nebenbei fliegen die Kilometer dahin. In Parchim gönne ich mir eine zweite Pause mit einem guten Kaffee. Dann heißt es wieder Kurs Südost. Nach 160 Kilometern erreiche ich meine Unterkunft südlich von Pritzwalk. Zum Glück handelt es sich um eine Unterkunft mit Gastronomie. Somit ist mir eine stärkende warme Abendmahlzeit sicher. Auf der angegliederten Kegelbahn tobt zwar der Bär, aber ich bin der einzige Übernachtungsgast im ‚Brauhaus‘. Frühstück gäbe es aber erst ab acht Uhr, teilt mir die nette Bedienung, fast entschuldigend, mit.


Meinen Vorschlag, mir stattdessen ein Lunchpaket vorzubereiten, nimmt sie erleichtert und erfreut an. (Wahrscheinlich wäre die Frühschicht an sie gegangen…smile.) Auf dem Flur des Gästehaus gäbe es eine Kaffeemaschine und einen Kühlschrank. Dort wolle sie das Lunchpaket später deponieren. Das ist mir sehr recht.

Brauhaus bei Pritzwalk


Ungefragt erlaube ich mir, das Rad mit auf das Zimmer zu nehmen. (Wer viel fragt, erhält viele Antworten.) Nicht nur, dass ich besser schlafe, wenn ich mein Rad sicher verwahrt weiß, es verschafft mir beim morgendlichen Packen auch einen kleinen taktischen Vorteil, weil ich die Taschen nicht demontiere.


Morgen soll es zeitig losgehen. Schließlich möchte ich noch etwas von Berlin sehen. Eine angekündigte Unwetterfront mit Sturmböen und Starkregen sind eine zusätzliche Motivation für einen frühen Start und eine flotte Fahrt. Die Front soll zum Nachmittag von Westen aufziehen und sich von Schleswig-Holstein bis Sachsen erstrecken. Ich dürfte mich zwar mehr oder weniger östlich des Wettersystems befinden, werde die Sache aber dennoch nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ohne an das Wetter zu denken, falle ich in einen tiefen wohligen Schlaf.


Sonntag

Die Sonne lacht ins Zimmer und lädt zum Pedalieren ein. Schnell bin ich auf den Beinen und hole mir einen Kaffee sowie mein Lunch Paket auf’s Zimmer. Da hat es wohl jemand gut gemeint mit der Kühlung. Das Lunch Paket ist reichhaltig, aber alles ist fast gefroren. Mühsam mümmel ich ein eisiges Butterbrot. Egal – der Rest kommt in die Satteltasche und wird schon noch auftauen.

Die Verpflegung für unterwegs erweist sich als äußerst angebracht. Ich verlasse die Prignitz und erreiche das Havelland. Irgendwie wird es immer einsamer. Natürlich habe ich die Route so zusammengestellt, dass ich Bundesstraßen und größere Landstraßen nahezu komplett meide. Landschaftlich ist das total toll. Allerdings bin ich damit auch fern der Lebensadern. Und selbst diese pulsieren hier nicht besonders üppig. Das Havelland scheint mir ein bisschen ‚vergessenes Land‘ zu sein. Die an sich schon geringe Bevölkerungsdichte wird wohl durch Landflucht immer weiter ausgedünnt. In manchen Dörfern scheint die Zeit irgendwann stehen geblieben zu sein.

Wirtschaftswege


Mit dem Siegeszug des Aufbackbrötchens haben hier wohl auch die letzten Bäcker das Handtuch oder besser gesagt das Handwerk geschmissen. Die Versorgungsmöglichkeiten sind jedenfalls ziemlich dünn gestreut. Nach etwa eineinhalb Stunden gelingt es mir eine kleine Dorftankstelle anzusteuern, die am Sonntag Morgen auch geöffnet hat. (Es mag unromantisch klingen, aber Tankstellen finde ich beim (Langstrecken-) Radeln manchmal ganz schön praktisch.)


Die sich mir bietende Szene erfüllt alle klassischen Klischees, die man sich für eine derart ländliche Tankstelle vorstellen kann. (Ich darf das schreiben, denn ich lebe selber auf dem Land…smile.) Eine sich für jünger, als sie tatsächlich ist, haltende und stark blondierte Kassiererin blickt genervt von ihrem Smartphone auf, als ich den Verkaufsraum betrete. Sie verliert sich aber umgehend wieder in ihr Multifunktionstelefon.


In der Ecke beim Kaffeeautomat sitzen drei verwegen wirkende Russen und frühstücken. Kurzhaarschnitte, schwarze Lederjacken, Jogginghosen und der Versuch von modischen Turnschuhen. - Halb zehn in Deutschland. An den Russen führt kein Weg vorbei. Denn der Kaffeeautomat ist genau hinter ihnen. Vielleicht wirkt es Wunder, dass ich einfach ebenso mürrisch gucke wie sie selbst. Jedenfalls rücken sie bereitwillig zur Seite und bieten mir sogar einen Bistrohocker an. So kommen wir dann doch noch in einen kleinen Schnack.


Simson Pilot


Im weiteren Verlauf werden die Straßen allmählich besser. Gewisse archaische Strukturen halten sich dennoch. Ich finde ja auch, dass zu große Nummernschilder, im Jargon auch Backbleche genannt, die Heckpartie von Motorrädern verunstalten. Aber so konsequent wie bei dieser 125er (?) Simson habe ich es auch noch nicht auf öffentlichen Straßen gesehen. Der Pilot verzichtet komplett auf Verunstaltendes. Im Hinterradschutzblechsind nicht einmal Löcher für einen Kennzeichenhalter.


Für mich läuft es gut weiter. Heute herrscht kein Gegenwind und die Temperaturen sind sommerlich, wenngleich es zunehmend schwüler wird. Im Südwesten lassen sich dunkle Wolken eher erahnen als sichten. Kurze Zeit später rausche ich an einer Säule vorbei – 80 Kilometer bis Berlin. Ich bremse und kehre sofort um. Das ist mir doch ein Foto wert. Von der anderen Straßenseite ruft eine Frau im Kittel herüber: Wolln’se bis Berlin. Det is noch en janzet Stück. Ich wende mich ihr zu und bejahe ihre Frage. Aber nich heute wa? Ich kläre sie darüber auf, dass ich am Freitag im nördlichen Schleswig-Holstein gestartet bin. Ne wa? Schlagartig stellt sie das Fegen des Gehweges ein, stellt den Besen zur Seite und schaut mich mit großen Augen an. Wolln‘se nen Kaffe?

Noch 80 Kilometer bis Berlin.


Nun habe ich ja quasi gerade erst einen Kaffee in der Gesellschaft der drei Herren aus dem großen östlichen Land genossen. Dennoch interessiert mich die Einladung. Aber ich überschlage, dass ich dann vor einer Stunde wohl nicht wieder los komme. Ein wenig sitzt mir die Wetterentwicklung im Nacken und ich möchte auch noch etwas Zeit für das Ziel haben. (Reisen und limitierte Zeit, passen einfach nicht zusammen….smile.) Daher lehne ich dankend ab. Aber ich schiebe mein Rad zu ihr auf die andere Straßenseite und wir schnacken noch ein wenig über das Leben im Havelland.


Die nächsten etwas über drei Stunden vergehen wie im Flug. Die Gedanken kreisen um das Gespräch, das Leben im Havelland und wie große Geschichte den kleinen Einzelnen treffen kann. Ehe ich mich versehe, erreiche ich dann auch schon die äußeren Stadtgrenzen von Berlin Spandau…


Gegen 14:30 erreiche ich dann das Brandenburger Tor. Das ameisenhafte Gewimmel der vielen Menschen ist für mich nach den zweieinhalb Tagen der Ruhe regelrecht gewöhnungsbedürftig. Dennoch radel ich gemütlich auf Erkundungstour durch die Stadt und finde sogar ruhige Plätzchen. Zum späten Nachmittag kommt ein Ausläufer des Unwetters in Berlin an. Ich flüchte zum Abwettern in ein gemütliches Café. Verblüffender Weise zieht das Wetter rasch durch, sodass ich den restlichen Tag noch ausgiebig nutzen kann, um interessante Eindrücke von Berlin zu sammeln, bevor ich am Abend meine Unterkunft aufsuche.

Nach 420 Kilometern am Ziel


So früh aufzustehen, dass man um 05:06 in einem Zug sitzt, lässt sich nicht schön reden. - Egal wie nah am Bahnhof man übernachtet. Aber bereits auf dem Bahnsteig stoße ich auf einen Leidensgenossen. Bekanntermaßen ist geteiltes Leid, halbes Leid. Und so radeln wir nebeneinander rasch den Bahnsteig entlang, da sich heute der Fahrradwagon genau am anderen Ende des Zuges befindet, als es der Wagenstandsanzeiger anzeigt. Nicht erlaubt, aber hilfreich. Immerhin erreichen wir den Wagon, bevor sich der Zug wieder in Bewegung setzt. Bei dem Radler handelt es sich um einen in Lüneburg lebenden Kolumbianer, der per Rad Freunde in Berlin besucht hat. Über technisches Fachsimpeln landen wir schnell beim Thema Radtouren in Südamerika….


Am Ziel und eine Erfahrung reicher

Das Ziel der Tour war nicht nur ein geografisches, sondern im wahrsten Sinne des Wortes eine Erfahrung. Und wie war diese? – Nun, es war eine runde Sache mit dem Singlespeed Rad auf Tour zu gehen. Und ich werde es wieder tun. Allerdings hat sich, auch wenn es den Anschein erweckt, kein so richtiges ‚Nostalgie Gefühl‘ eingestellt. Das geht wahrscheinlich auch nicht wirklich. Als moderner Mensch der Gegenwart ist man ja schließlich auch in der Gegenwart, mit all ihren Annehmlichkeiten, unterwegs. Unsere Räder sind zuverlässiger, die Straßen sind besser, unsere Bekleidung schützt wirksamer vor unangenehmer Witterung und wahrscheinlich sind wir auch fitter und besser trainiert.


In meiner Quintessenz erscheint mir jedoch das Entscheidende zu sein, dass uns wahrscheinlich die gleiche Motivation, wie die der Altvorderen, losziehen lässt. Die Neugier über den Tellerrand schauen zu wollen, Landstriche zu entdecken und mit Menschen in Kontakt zu kommen, ist sicherlich eine der starken Triebfedern dabei. Möglicherweise ist auch die Freude und Zufriedenheit an der eigenen Ertüchtigung, die so eine Tour naturgemäß mit sich bringt, ähnlich. In weit man früher das Bedürfnis hatte einem Alltag mit zunehmender Arbeitsverdichtung und Streubreite zu entkommen, vermag ich dagegen nicht zu beurteilen.


Was nun das Besondere war? – Ich denke, es ist die (innere) Haltung, die erforderlich ist oder die sich einstellt, wenn man mit einem Rad ohne Schaltung unterwegs ist. Schließlich lässt sich keine Erleichterung durch Änderung des Übersetzungsverhältnisses herbeiführen. Bei Hügeln und Gegenwind muss man sich eben durchbeißen. Und dabei hilft die äußere Haltung ganz erheblich. Ergonomisch gut und windschnittig auf dem Rad zu sitzen, sorgt neben präzisem Pedalieren für einen effektiven Vortrieb. Andererseits muss man sich bergab und / oder bei Rückenwind damit begnügen, dass man eine gewisse Geschwindigkeit nicht überschreitet. Vielleicht gefällt mir auch der Grad an Stoizismus, den es erfordert, zwar nur mit einem Gang, aber dennoch flott unterwegs zu sein.


Es ist wohl die Konzentration auf das Wesentliche, die mir einfach großen Spaß und eine intensive mentale Entspannung bereitet.


Ausreißversuch

Ein Ausreißversuch ist im Radrennsport der Versuch, sich vom Hauptfeld oder von einer Gruppe von Radrennfahrern zu lösen, diese zu distanzieren und das Ziel mit einem Vorsprung zu erreichen. Abgesehen von dem kleinen Scharmützel mit dem Berliner Taxifahrer, habe ich natürlich keine rennsportlichen Ambitionen verfolgt.


Ersetzt man ‚Hauptfeld‘ allerdings durch ‚Alltag‘, war die Tour nach Berlin ein überaus erfolgreicher Ausreißversuch. Die Intensität sorgte für ein deutliches Lösen vom Alltag. Es ist erstaunlich, was wenige Tage des Radelns bewirken können. Diese Entspannung ist vielleicht der wertvolle Vorsprung, mit dem man sich wieder dem Alltag stellen kann.


Wer es genau wissen will

Das Übersetzungsverhältnis entsprach 44/19 (meine Winterstarrgangübersetzung). Interessanter Weise war bei den Tagesetappen der Unterschied zum Schaltungsrad deutlich geringer als vermutet. Dabei war die Route war durchaus hügelig und Freitag sowie Samstag herrschte spürbarer Gegenwind. Am Ende der Etappen lag die Durchschnittsgeschwindigkeit zwischen 23,5 und 25 km/h. Das ist ganz ordentlich. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass mir sowohl der Wind als auch die Art der Topographie aus dem heimatlichen Trainingsevier vertraut sind. Mit einem Singlespeed Rad zu touren halte ich auch ausschließlich bei geeignetem Gelände für sinnvoll. Als Reifen hat sich der Continental Touring Plus 32 mm (5,0 Bar) bewährt. Diese breitere Ausführung dämpft naturgemäß deutlich stärker als die 28 mm Version (7,0 Bar).

Pure Bros Single Speed Tourer


Equipment

Immer wieder werde ich ungläubig gefragt, ob dies mein gesamtes Gepäck sei, was am Rad zu sehen ist. Wen es interessiert, wie sich meine Ausrüstung zusammen setzt, kann der folgenden Ausführung folgen (von links unten beginnend).

Tourengepäck


Zivilbekleidung: Schuhe, kurzer Pyjama (Seide), Hemd, Hose, Slip, Socken, wattierte Jacke (schwarz)


Radbekleidung (Schietwetter): leicht wattierte Jacke (gelb mit Reflexstreifen), Mütze, Handschuhe , Überschuhe, Windjacke, Windweste, Regenjacke


Sonstiges: Digicam, GPS Navigator, 220 V Universal Adapter/Ladegerät mit 2 USB Ladekabeln, Kulturbeutel (grau), Lesebrille, Sonnenbrille, Taschenmesser, Löffel, Übersichtskarte 1:500.000, Flickzeug/Werkzeug,Front-, Heckakkulicht zum Anstecken, Schloss und 12mm Kabel 1,5 m


Gewicht inklusive Lenker- und Satteltasche: 5,25 kg (plus  0,5 kg für Schloss und Kabel)


Fahrerbekleidung (getragen, nicht im Gepäckumfang): Netzunterhemd lang, Trikot lang, Radhose kurz, Überhose lang (ohne Einsatz), Socken, Radschuhe, Kappe. (Bei wärmerer Witterung Trikot und Hose kurz plus Arm-, Beinlinge)


Mit diesen Dingen fühle ich mich, sofern ich auf feste Unterkünfte zurückgreife, absolut gut gerüstet für Touren von Frühjahr bis Herbst. Die Dauer einer Tour hat dabei keinen Einfluss auf den Umfang meiner Ausrüstung. Sie funktioniert für ein Wochenende ebenso, wie für drei Wochen. Bei der Verwendung entsprechender Textilien, lässt sich Bekleidung abends von Hand waschen und sie ist am nächsten Morgen trocken. Bei mehrwöchigen Touren würde ich jedoch sicherheitshalber noch einen Reserve-Faltreifen mitnehmen. Je nach Reifen kommen zwischen 260 und 550 Gramm zum Gesamtgewicht dazu.


Und nun wünsche ich allen Lesern viel Vergnügen bei der nächsten eigenen Tour.


Text und Fotos Andreas Thier 05/2107

Die Tour hat mich inspiriert. Hier gibt es die Fortsetzung Ost.