Grisocomodo
  Motor-Rad-Reisen

Französische Atlantikküste

Reise nach Armorica


Die Dunkelheit liegt schwer wie Blei über dem Land. Es ist diese schwarze, undurchdringliche Dunkelheit, in der hohe Feuchtigkeit und tiefe Wolken jegliches Licht schlucken. Wie der Leuchtturm auf dem Fels in der Brandung leitet mir der Scheinwerfer der Guzzi mit seinem Lichtkegel den Weg.


Erste Tropfen treffen auf das Visier und ich befürchte die Regensachen überziehen zu müssen. Aber der Regen ist zögerlich, als wolle er nur drohen. Ich treibe die Guzzi durch die Dunkelheit und halte die Drehzahl nach Möglichkeit zwischen 5.000 und 6.000 Umdrehungen. Die Zeit ist fortgeschritten und noch liegt etwas Strecke vor mir. Das schwarze Band der Autobahn windet sich in weiten Bögen auf und ab durch die Kasseler Berge.


Den Blick auf den Lichtkegel konzentriert und den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, suche ich etwas Windschutz hinter dem großen Tankrucksack. In der nächsten Rechtskurve verspüre ich wieder diesen Druck auf den rechten Rippenbogen.



Drucksache


Die Griso Seitentaschen stehen noch unfertig bei der Sattlerin und ich muss mit der Gepäckunterbringung arg improvisieren. Der einzige Platz für ein Fläschen Vino Rosso von meinem Lieblingshinterhofitaliener bleibt im Tankrucksack. Und obwohl es ein großer und ein italienischer Tankrucksack ist, passt eine Weinflasche nicht komplett hinein. In Folge dessen Drückt der Flaschenhals auf die Rippen. Immerhin kann der Korken gut atmen…


Außerdem weiß Karin einen leckeren Tropfen zu schätzen. Karin ist eine liebe Freundin, die mir für die Nacht ein Quartier angeboten hat. Ihren Motorradführerschein hat sie in einem Lebensabschnitt erworben, in dem andere als Rentner beginnen runterzufahren. Karin dreht dagegen voll auf und düst (und wie !) mit ihrer Harley gekonnt durch den Taunus. Ich schätze Karin sehr und wir philosophieren bis spät in die die Nacht. On the road again…


Hinter mir
Hinter mir liegt die frische Erfahrung von etwas über sechshundert Kilometer, abgespult am Freitag nach der Arbeit. Der Stau vor dem Elbtunnel ist obligatorisch.


Vor mir
Vor mir liegen rund 4.700 Kilometer, von denen ich absolut keine Ahnung habe, was sie mir an Erfahrungen bieten werden. Dabei ist der Weg keineswegs das Ziel. Das wäre ja auch blöd, weil man nie ankäme.


Das Ziel - Der Hintergrund zur Tour

Als chronischer und notorischer Küstenbewohner ziehen mich Küsten und Häfen immer wieder in ihren Bann. Ein Blick auf meine Reiseübersichtskarte lässt unschwer erkennen, dass sich meine Guzzi anschickt, die europäische Küstenlinie vollständig abzufahren. Und dabei fehlte bisher schlichtweg die Atlantikküste unserer westlichen Nachbarn. Dieser übergeordnete Plan sorgte allerdings für ein gewisses Dilemma.

Passion Küstentouren


Dank des unsäglichen Hochleistungspädagogen, der mir auf der Schule Frankreich und die französische Sprache näherbringen sollte, hege ich zugegebener Maßen eine gewisse Antipathie gegen Themen der Trikolore. Zudem habe ich auf früheren Radreisen als Deutscher auch die ein oder andere negative Erfahrung in dem Land gemacht. Die Spitze war ein Verweis von einem Campingplatz. Der Betreiber wollte mir eine Diskussion über meine Schuld an der jüngeren deutschen Geschichte aufzwängen. Dank des bereits oben erwähnten frankophonen Pädagogen konnte ich sprachlich (und argumentativ sowieso) recht gut zur Gegenwehr ansetzen. Am Ende der (schwachen) Argumentationskette des Betreibers erhielt ich Platzverbot. In der Folge beschränkten sich die Frankreich Kontakte auf das Skilaufen in den französischen Alpen, aber da sind ja auch nicht so viele Franzosen.


Wie kommt man nun an die französische Atlantikküste, ohne zu viel mit den Franzosen zu tun zu haben ? Des Rätsels Lösung heißt „Armorica“, Land am Meer, wie die Kelten das Gebiet der heutigen Bretagne nannten. Mit der Idee kann ich mich auf Anhieb anfreunden. Und überhaupt ist es einfach der Teil des Landes unserer westlichen Nachbarn, welcher die sympathischsten Botschafter hat, Asterix und Obelix, die Gallier, die dem römischen Ordnungssinn ein erheiterndes gallisches Laissez-faire entgegenstellen. Damit ist das Ziel der Tour ausreichend definiert.


Quick and dirty

Da ich gewöhnlich keine halben Sachen mache, führt die Anreise vom nördlichen Schleswig-Holstein in die Bretagne über Biarritz, Cap Ferret und La Rochelle. Das passt eben auch zu dem Küstenlinienprojekt .

Freitags nach der Arbeit zu starten und Sonntag abends in Biarritz zu sein ist nicht jedermanns Sache, muss es aber auch nicht sein. Ich reise gerne auf eigener Achse an, basta ! – Ich lasse mich jetzt auch nicht auf Diskussionen mit Autoreisezugschönrechner ein. Meine Michelin Pilot Road Reifensätze halten 20.000 bis 26.000 Kilometer und vertragen es auch mal zweitausend Kilometer zu einem schönen Strand zurückzulegen.


Erste Reiseerlebnisse

Außerdem möchte ich unterwegs auch nicht auf die ersten Reiseerlebnisse verzichten müssen. Am zweiten Tag passiere ich in der Höhe von Mulhouse die Grenze ins große westliche Nachbarland. Nach dem Mittag huscht ein Schild an mir vorbei, dass irgendeine Wasserscheide markiert. Genau konnte ich es im Vorbeifahren nicht erkennen. Ich glaube es ging um Nordsee vs Mittelmeer. Wie zur Strafe, nicht genau auf dieses touristisch lehrreiche Highlight geachtet zu haben, fallen urplötzlich tropische Regenmassen aus dem Himmel, als solle ich praktischen Anschauungsunterricht erhalten, wohin das Wasser nun abfließt.


Zu allem Überfluss befinde ich mich in einem Baustellenbereich mit starkem Gefälle, der es mir absolut unmöglich macht anzuhalten, um die Regenpelle überzustreifen. Der Begriff der „Wasserstraße“ bekommt für mich eine völlig neue Bedeutung.
Abends stehe ich in einem kleinen Örtchen, dass ich bis heute nicht auf meiner Straßenkarte gefunden habe, vor einem noch kleineren Hotel und lamentiere mit dem Eigentümer, dass ich nur dort zu nächtigen gedenke, wenn meine bella macchina die Nacht nicht lieblos an der Straße abgestellt verbringen muss. Das Hotel hat keinen Hof und ich deute großspurig, selber über mein Französisch staunend, an, dass ich dann eben ein anderes Hotel suchen werde. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass es natürlich weit und breit kein anderes Hotel gibt. Aber die ganze Angelegenheit wird irgendwie zum Sport. Am Ende darf meine Guzzi im Hof des Hauses der Eltern der Bedienung übernachten. Alle lachen und alle sind zufrieden. Ich genieße die Nasszelle meines Zimmers bevor ich noch ordentlich zu Abend speise und die dann doch etwas holprige Unterhaltung mit dem Hotellier und der Bedienung genieße. In jedem Fall ein guter Start in dem Land meiner gepflegten Vorurteile.

Nasszelle


Die Hotelübernachtung ist auf dieser Tour eine echte Ausnahme. Wegen eines anderen nachhaltigen Projektes sind nicht nur meine Reisetage, sondern vor allem auch meine Mittel äußerst begrenzt. Das Petit Déjeuner am Morgen wandle ich daher vorausschauend zum Grand Dejeuner aus. Da ich nicht genau weiß wo ich bin, weiß ich auch nicht genau wie weit es bis nach Biarritz, am Fuße der Pyrenäen, kurz vor der spanischen Grenze ist. Aber es sind rund sechzig Zentimeter auf meiner Karte. Und die hat einen Maßstab von 1 : 1.000.000…


Ich starte bei erfrischenden neun Grad Celsius und die Sonne hat große Mühe die Luft auf schon fast milde vierzehn Grad zu erwärmen. Die Finger sind soeben wieder einigermaßen warm, da geht es im Massif Central auf rund 1000 m Höhe und die Kälte kriecht wieder erbarmungslos unter die Klamotten. Froh nur zweimal für kurze Zeit die Regensachen überziehen zu müssen genieße ich die grandiosen Ausblicke. Waldreich und satt grün präsentiert sich eine Kulturlandschaft, die mit ihren alten, gepflegten Bauernhöfen schon fast malerisch wirkt. Mein Weg quert die hier nur wenige Meter breite liebliche Loire und führt vorbei an den imposanten Vulkankegel der Auvergne. In der Dordogne wird die Landschaft weit läufiger, arider und vor allem sonniger. Am Horizont tauchen die mächtigen Pyrenäen auf und weisen mir den Weg in Richtung Westen zum Atlantik.


Kurz vor der Küste stelle ich fest, dass Bayonne bei Nacht mit seinen illuminierten Häuserfronten am Fluß auch ganz nett ist. Na ja es ist noch nicht wirklich Nacht, aber um halb neun ist es bereits überraschend dunkel. In Bayonne lerne ich Monsieur Picar kennen. Monsieur Picar will in einen Kreisverkehr fahren. Da Monsieur sonst wo hinschaut oder träumt, sieht er den vor ihm stehenden (!) Motorradfahrer (mich !) nicht. Fast gelingt es ihm im letzen Moment noch seine Synapsen zu aktivieren und auf die Bremse zu treten. Aber eben nur fast. Mit der negativ beschleunigten Masse von eineinhalb Tonnen Blech dockt er hinten an dem Motorrad an.


Zum Glück ist eine Guzzi nicht aus Pappe und ich lasse mich nicht so schnell aus dem Sattel holen. Ich klappe den Seitenständer aus, stelle meine Bella hin und nehme den Helm ab, als Monsieur Picar bereits lauthals und gestikulierend auf mich zugeschossen kommt. Da lernt Monsieur Picar Herrn Thier kennen. Ich lege ihm meine linke Hand auf die linke Schulter, fasse etwas kräftiger zu und blicke ihm tief in die Augen. Ganz ruhig frage ich ihn, ob er ein Problem hätte. Offenbar beeindruckt, mindestens aber überrascht verstummt er völlig. Für ihn antwortend sage ich mit Nachdruck – NEIN , gebe ihm aber gleichzeitig zu bedenken, dass ich ein Problem haben könnte und zwar mit dem Motorrad. Wieder ganz ruhig schlage ich ihm vor, dass wir zusammen das Motorrad inspizieren und setze sehr betont nach, dass wir dann sehen, ob er ein Problem hat – und zwar mit mir… Außer einem zerknitterten Nummernschild ist zum Glück nichts festzustellen. Also nix passiert. Zudem ist der arme Kerl völlig durch den Wind und arg verunsichert. Dabei wollte ich ihm gar keine Angst machen. Mir ging nur seine Schnatterei auf den Sack. Nun in etwas entspannterer Atmosphäre tauschen wir für den Fall der Fälle noch die Adressen aus und verabschieden uns mit einem ehrlichen Handschlag. Ich lasse mich jetzt nicht dazu hinreißen meinem damaligen Pauker gegenüber tiefe Dankbarkeit zu bezeugen, aber ein paar Sprachkenntnisse können sich ja doch als ganz nützlich erweisen.


Soweit die Reiseerlebnisse der ersten sechzig Stunden. Wer will da schon mit dem Autoreisezug fahren ? Nach etwas mehr als zweitausend Kilometern erreiche ich den Atlantik.


Am Atlantik

Der Westwind ist stark. Die Regenwolken hängen tief. Enorme Wellen branden auf die Küste. Feiner Gischtnebel lässt die Luft salzig schmecken. Am Meer. Für die nächsten zweitausendvierhundert Kilometer wird der Atlantik mein steter Begleiter sein. Ich beginne den Tag entspannt und lasse das mondäne Biarritz auf mich wirken. Viel ist in den Straßen nicht los. Mit hochgeschlagenem Kragen suchen vereinzelte, irgendwie übrig geblieben wirkende, Reiche und Schöne die nächstgelegene Bar für’s petite dejeuner auf. Die Sonnenbrillen (bei dem Wetter) täuschen nicht darüber hinweg, dass ihre große Zeit ebenso vergangen ist, wie der letzte Sommer. Die Septembermitte liegt bereits hinter mir.

Biarritz


Ein lebhafter Kontrast dazu ist eine Gruppe Kinder in einer Strandbucht. Wer Wellen reiten will, muss auch Wellen schwimmen können. Und unter der Anleitung offensichtlich erfahrener Instrukteure können die vor Begeisterung sprühenden Kinder kaum abwarten sich in die Fluten zu stürzen. Respekt, hier versteht man etwas vom Meer und weiß damit umzugehen.


Atlantik-Schwimm-Unterricht


Ich lasse den letzten Regen der Tour hinter mir und artig brummt die Guzzi durch die Gascogne nach Norden. Auf den sandigen Böden gedeihen Heide- und Nadelbaumlandschaften. Die Gascogne ist dünn besiedelt und das Fahren ist ein Traum. D’Artagnon in Alexandre Dumas‘ Roman „Die drei Musketiere“ hat da wirklich einen entbehrungsreichen langen Weg mit seinem Klepper vor sich gehabt, als er nach Paris aufgebrochen ist.


Die kleinen Orte sind durchweg sehr liebevoll gepflegt. Die Ferien-Freizeit-Infrastruktur ist auf höchstem Niveau. Wandern, Radfahren, Reiten, Segeln, Surfen, Kajaken, alles kann man hier in einer gepflegten Umgebung betreiben. Zwischen den Orten gibt es Küstenabschnitte, in denen auf dreißig Kilometern nichts als Strand ist.

Warten auf die richtige Welle


Beach Cruiser mit Surfboard Halter


Noch mehr Sand gibt es nur noch auf der Dune du Pilat, der größten Wanderdüne Europas. 108 Meter hoch, 500 Meter breit und etwa 2,7 Kilometer lang wird ihr Volumen auf 60 Millionen Kubikmeter geschätzt. Der Blick von der Düne auf das Meer ist außerirdisch schön.


Düne bei Arcachon




Im nahegelegenen Arcachon komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Hier stehen keine Ferienhäuschen, sondern Ferienvillen, und zwar die meiste Zeit leer. Es sind in der Tat reine Ferienimmobilien. Fairerweise muss angenommen werden, dass wahrscheinlich nicht wenige Eigentümer an den Wochenenden aus dem etwa sechzig Kilometer entfernten Bordeaux auftauchen. Überhaupt habe ich bisher in keinster Weise den Eindruck, dass es unseren westlichen Nachbarn ökonomisch irgendwie nicht gut gehen könnte.


Dabei darf man nicht vergessen, dass das Land mit 1,7 Billionen Euro verschuldet ist. Das sind knapp 85 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung. Das ist mehr als in jedem anderen der Euro-Länder, die von den Rating Agenturen noch mit der Bestnote AAA beurteilt werden. Den letzten ausgeglichenen Haushalt gab es 1974 und einer der Kostentreiber ist das Heer der Angestellten im Öffentlichen Dienst. Rund jeder fünfte Arbeitnehmer in Frankreich bezieht sein Gehalt vom Staat.


Dazu Stéphane Boujnah, Chef der Santander-Bank in Frankreich und Mitgründer der Ideenschmiede „En Temps Réel“ („in Echtzeit“) : „Die französische Politik hat sich ans Schuldenmachen gewöhnt, Sparen ist für die Politik intellektuelles Neuland. Das ist in etwa so, als verlangte man von den Gänsen sich auf Weihnachten zu freuen. “

Die schmale Landzunge von Cap Ferret ist ein sehr lauschiger Streifen Land. Im Gegensatz zu Arcachon ist das Erscheinungsbild nahezu skandinavisch schlicht. Aber vermutlich reicht hier selbst im Land des Öffentlichen Dienstes eine derartige Stelle nicht aus, um ein Fleckchen der kostbaren Erde sein Eigen nennen zu können. In jedem Fall ist der Wohlfühlfaktor enorm hoch. Dort begegnet mir auch die einzige Moto Guzzi auf der Reise. Sportlich lässig mit Windjacke, offenem Helm und kleinem Rucksack fährt der Endfünziger kurz zum Fischer, um herrlich frisches Meeresgetier auf den Abendtisch zu bringen. Er grüßt mit einem breiten Grinsen und zieht mit seiner Guzzi V7 Sport vorüber. Es ist eine originale V7 im Bestzustand. Manche kaufen sich für das Geld ein neues Mittelklasseauto, andere die schönste gebrauchte Guzzi der Welt. Noch Fragen ?

Beinahe skandinavisch
Noch gut zu erkennen, das zerknitterte Nummernschild.


Erst nördlich der Gironde Mündung wechselt die Kulisse. Das Land ist sumpfig, Feuchtwiesen sind von brackigen Gräben durchzogen. Straßendörfer mit heruntergekommenen Häusern und ausschließlich oberirdischer Verkabelung machen deutlich, dass es auch noch eine andere Gegenwart gibt.


La Rochelle ist dagegen eine absolute Perle. Das Altstadtzentrum direkt am Hafen, alles umgeben von massiven Stadtmauern und eine Hafeneinfahrt mit wuchtigen Festungstürmen sind an Atmosphäre kaum zu überbieten.


Impressionen von La Rochelle






Mini-Transat-Segler vor der gewaltigen Hafeneinfahrt.
Mit diesen 6,5 m langen Booten werden Einhand-Transatlantik Regatten gesegelt.


Die schönen Küstenlandschaften erleichtern den Start nach Pausen in Hafenstädten.


Les Sables d’Olonne ist ein Hafen, dessen Name bei mir schon immer vor Aufregung eine Gänsehaut verursacht hat. Es ist einer der großen Häfen des Hochseeragattasports. Seit 1989 ist Les Sables d’Olonne alle vier Jahre Startarena für die härteste Regatta der Welt, der Vendee Globe. Die Route der Einhandregatta führt einmal Nonstop um den Globus. Das heißt mindestens 25.000 Seemeilen ohne fremde Hilfe und ohne Land zu betreten. Das Rennen wird zu großen Teilen in den stürmischen und äußerst gefährlichen antarktischen Gewässern auf etwa 18 Meter langen Booten der Open 60 Klasse gesegelt und stellt allerhöchste Ansprüche an die Teilnehmer. 2001 kommt es zu einem Wimpernschlag-Finale. Nach über 90 Tagen läuft die Britin Ellen MacArthur (Jahrgang 1977, ca 1,60m groß) mit ihrer „Kingfisher“ nur weniger als 24 Stunden nach dem Erstplatzierten Michel Desjoyeux ein. Ich sage es ja, Gänsehautfeeling. Der nächste Start ist für den 20. Oktober 2012 terminiert.


Hafen von Les Sables D'Olonne


Hafeneinfahrt


Allessandro di Benedetto startet am 26. Oktober 2009 mit diesem kleinen Boot und folgt der Route der Vendée Globe, also keine Hilfe, kein Stop an Land, südlich der drei großen Kaps um den Globus herum. Nach 268 Tagen und 28.000 Seemeilen läuft er wieder in Les Sables ein. Chapeau !!!   


Modifizierte 6,5 m lange Mini-Transat-Yacht


Bei der Suche nach einer Frühstücksbar entscheide ich mich eines morgens spontan für „La Marée“. Nicht das die Auswahl hier auf dem Land besonders groß wäre, aber der MG in british racing green vor der Tür macht mich neugierig. Als ich eintrete begrüßt mich ein, wegen dem Guzzi Grummeln nicht weniger neugieriger Mitsechziger im stilecht gestreiften englischen Rugby Shirt. Vor ihm auf dem Tisch ein Sammelsurium von Road Book Unterlagen und diverser Straßenkarten, Vorbereitungen für eine Veteranen Rallye. Noch bevor ich meine Jacke ablegen und ich mich niederlassen kann, erscheinen zwei weitere Herren derselben Altersklasse. Beide jeweils mit einer klassischen Boxer BMW vorgefahren. Sie winken mich umgehend an ihren Tisch, laden mich großzügig zu Café und Croissant ein und schon sind wir ins Gespräch vertieft. Sie fragen nach meiner Tour und nach der Guzzi und sie erzählen von aufregenden früheren Touren. Das sind die Begegnungen der Straße, die ich so schätze.


BZH

Mit der Querung der Loire erreiche ich von Süden kommend das eigentliche Ziel der Reise, Armorica. Das Land am Meer trägt seinen Namen zu Recht. Gewissermaßen kann ein Land nicht mehr am Meer liegen (sonst wäre es eine Insel…haha). Zu drei Seiten ist die Bretagne vom Atlantik umringt. Die östliche Abgrenzung folgt vereinfacht dargestellt einer Linie westlich des St. Mont Michel bis Nantes. Die Fläche beträgt etwa 27.000 Quadratkilometer und im Landesinneren verläuft ein Höhenzug, dessen größte Höhe 384 Meter beträgt. Nach Osten nimmt die Höhe ab.

Zunächst treffe ich im Südosten auf ausgedehnte Sumpfgebiete im Bereich der Guerande-Halbinsel. Entlang der Südküste gehen die Höhenzüge relativ sanft ins Meer über. Ich passiere wildromantische Buchten, Naturhäfen und Halbinseln.
Ich nehme die ersten Autos mit BZH-Aufklebern wahr. Und bevor die Reise weiter an den binnenseeartig anmutenden Golf du Morbihan geht, sei ein ganz kleiner Exkurs erlaubt. Ganz ohne Geschichte lässt sich die Bretagne und ihr Lebensgefühl nämlich nicht verstehen. BZH steht für Breizh, das bretonische Wort für Bretagne.

Um 5500 v.Chr  Megalith-Kultur mit all ihren Dolmen, Menhiren usw...
Um 600 v.Chr.  Kelten wandern aus dem Loire Tal ein. Armor = Land des Meeres
Bis 300 v.Chr.  Unter Führung der Veneter entsteht eine blühende Kultur durch Handel und Seefahrt.
57 v.Chr.  Die ersten römischen Legionen treffen ein.
56 v.Chr.  Cäsars Flotte vernichtet die der Veneter, südlich des Golfes du Morbihan. Dies ist die Voraussetzung für die Eroberung des ganzen Landes bis 43 v.Chr.
460  Aus Britannien werden die Kelten von den Angeln und Sachsen vertrieben. Sie wandern nach Armorika und bringen die keltische Sprache mit. Armor wird zur Bretagne.

1488  scheitern Kämpfe zur Wahrung der Unabhängigkeit von Frankreich.
1532  Die Bretagne wurde an die französische Krone übergeben. So etwas wie die regionale Selbstverwaltung wird zugesichert. Doch bereits die Bourbonenkönige halten sich nicht an die Garantie.


1789 Die Französische Revolution wird in der Bretagne mit Begeisterung aufge nommen… bis man erkennt, dass der Preis die Aufgabe der Autonomie ist.
1792-1804  Eine Gruppe von Royalisten kämpft gegen die Revolutionsgarden.
1912-1930  Es kommt zur Gründung einiger separatistischer Regionalparteien

1939  setzten die bretonischen Separatisten auf die Deutschen, ihre Führer wanderten ab ins Reich und kehrten mit den Deutschen zurück. Bis zur Landung der Alliierten fühlten sie sich als Sieger und träumten von einem unabhängigen Staat. Wegen Kollaboration mit den Deutschen wurden nach dem Krieg 819 Bretonen erschossen. (DER SPIEGEL, 5/1969)

1969  So wie ihre keltischen Brüder in Irland, Schottland und Wales Freiheit von England fordern, so wollen die bretonischen Separatisten Unabhängigkeit von Frankreich. Wie in Irland, Schottland und Wales detonieren Bomben in der Bretagne. Während die Partisanen der „Front de libération de la Bretagne“ (FLB ) aus dem Untergrund operieren, wollen andere Gruppen mit legalen Mitteln die regionale Selbstverwaltung der Bretagne wiederherstellen. Geeint werden sie durch „Gwen ha du“ – weiß und schwarz, die Farben der bretonischen Flagge.
Die Bretagne, von der Zentralgewalt in Paris vernachlässigt, fühlt sich vom Fortschritt der Nation ausgeschlossen.


Daher ist es von besonderer Bedeutung, dass Charles de Gaulle auf bretonischem Boden den Bretonen sein großes Reformwerk verkünden will : Die Regionalisierung Frankreichs.

1980  Im März zerbricht der Tanker „Tanio“ 50 Kilometer vor der Insel Batz in zwei Teile. 5.000 Tonnen Öl schwappen auf einer Länge von 120 Kilometern an die Kanalküste der Bretagne. 10.000 Tonnen Öl befinden sich noch in einem Teil des Wracks in 87 Metern Tiefe. Die Bretonen fühlen sich von Paris wieder einmal allein gelassen. Erst 1978 zerbrach die mit 223.131 Tonnen Öl beladene „Amoco Cadiz“. 400 Kilometer Bretagne-Küste wurde mit Ölschlamm überzogen. In den vergangenen fünf Jahren strandeten, kenterten, sanken vor der Bretagne insgesamt 28 Schiffe und es ereigneten sich 13 Zusammenstöße.

Die Bretonen haben die Nase voll. „In Paimpol versammelten sich Händler und Fischer nach der „Tanio“-Tragödie zu einer Protestkundgebung. Die französische Flagge wurde eingezogen und die schwarz-weiß gestreifte der Bretagne auf halbmast gesetzt. Vor dem Elysée-Palast in Paris entleerten die Bretonen sechs Kübel mit Ölschlamm und legten dem Staatspräsidenten sechs im Öl erstickte Vögel vor die Tür.“ (DER SPIEGEL 22/1980)
Paris übt sich in Gelassenheit und reagiert mit der Aussendung der CRS, der berüchtigten harten Bereitschaftspolizei, gegen die parallel stattfindenden Proteste gegen das Atomkraftwerk in Plogff. Der Intervention des Bischofs von Saint-Brieuc ist es zu verdanken, dass der Staatschef Valéry Giscard d’Estaing überhaupt bereit ist, eine Bretonen Delegation zu empfangen.


Diese kleine Auswahl von Streiflichtern der Geschichte kann vielleicht das besondere Verhältnis der Bretonen zu Frankreich ein klein wenig beleuchten. Vor diesen Hintergründen bekommen die BZH Autoaufkleber erst ihre wahre Bedeutung. In jedem Fall ist der „National“-Stolz der Bevölkerung deutlich ausgeprägt. Man darf auch keineswegs vergessen, es waren Bretonen, die den Ruhm Frankreichs durch ihre Seefahrer erst ermöglichten.


Golf du Morbihan

Über geschwungene Straßen fahre ich weiter zum fast subtropisch geprägten Golf du Morbihan. Sorgten früher auch die Veneter für ordentlichen Wirbel, so sind es heute zu mindestens noch die Gezeiten. Die große, fast abgeschlossene Bucht mit ihren sechzig Inseln, ist mitnichten ein ruhiges Binnengewässer. Der Tidenhub fällt zwar mit 3,5 Meter verhältnismäßig niedrig aus, aber die Wasserfläche reduziert sich von 130 km² bei Hochwasser auf nur noch 50 km² bei Niedrigwasser und in dem engen Mündungsbereich zum Atlantik treten Stromgeschwindigkeiten von bis zu neun Knoten auf.



Vannes

Vannes am Golf du Morbihan ist die ehemalige Hauptstadt der Veneter und wurde nach der Eroberung von den Römern ebenfalls als wichtiger Knotenpunkt zwischen Land- und Seehandel genutzt. Nach soviel Geschichte lege ich eine Pause ein, genieße einen Café au Lait und beobachte das Treiben der Menschen.



Wer wie ich das Meer liebt ist hier richtig aufgehoben. Das Fahren entlang der Küste macht ungeheuren Spaß. Die Straßen sind von guter Qualität und fahrerisch interessant. Ich spüre eine wohlige Zufriedenheit. Fröhlich tickeln die Ventile, während die Guzzi ihre Bahn zieht. Savoir vivre auf zwei Rädern.


La Trinité-sur-Mer an der Mündung des Golf du Morbihan ist daher ein absolutes Muss auf meiner Route. La Trinité ist das Hochsee-Segler-Mekka schlechthin. Nichts geringeres als die schnellsten Segelboote können hier bestaunt werden. Die Segellegende Eric Tabarly, Gewinner des ersten Einhand-Transatlantik-Rennens (OSTAR 1964) war hier zu Hause. Tabarly, in der irischen See ertrunken, wird ein echter Kultstatus zu Teil. Ihm gelang auf sportlicher Ebene, was im jahrhundertealten Streit um die Seeherrschaft zwischen England und Frankreich von der Marine Nationale nie erreicht wurde. Die englische Flotte auf Platz zwei zu verweisen.



Ich schlendere durch den Hafen und könnte den ganzen Tag hier verbringen. Alles was schnell und teuer ist und was man allenfalls aus Segelzeitschriften kennt, liegt hier im Hafen. Unsere westlichen Nachbarn spielen eine erfolgreiche Top Rolle im harten Geschäft der schnellen Hochsee-Segelei. Bei der Route du Rhum segeln die Champs zum Beispiel im November von St. Malo in die Karibik. Einhand haben sie gut 200m² Segelfläche zu managen. Ihre High Tech Racer werden bis zu 30 kn schnell (55 km/h). Die Nachwuchssegler versuchen derweil in der Mini-Transat Szene (Bootslänge 6,5 m) die ersten Sporen zu verdienen und Sponsoren auf sich aufmerksam zu machen. Nach Qualifikationsregatten u.a. durch die Biskaya segeln sie mit diesen kleinen Booten ebenfalls über den großen Teich.


High-Tech-Trimarane, noch schneller als die Open 60 Yachten




Bei der historischen Bedeutung der Seefahrt ist die Begeisterung in der Bevölkerung enorm. Zum Start großer Regatten versammeln sich durchaus mehrere hunderttausend Schaulustige.


Es fällt mir schwer mich loszureißen. Ich könnte einen ganzen Sommer in der Bretagne verbringen, ohne mich auch nur einen Moment zu langweilen. Alleine in der nächsten Stadt, Loirant könnte ich mich mindestens eine Woche aufhalten. Ursprünglich schrieb sich der Name L’Orient, was darauf hinweist, dass hier einmal das französische Tor zum Orient war. Louis XIV. gründete hier 1664 auf Drängen seines Finanzministers Colbert die Ostindien-Kompagnie. Fischereihafen, Museen, U-Boot Bunker (900.000 t Beton) und die Cité de la Voile Eric Tabarly verlangen nach deutlich mehr Zeit als mir zur Verfügung steht und ich fasse den Plan, in den nächsten Jahren einmal im August zurückzukommen, um dann auch das Festival Interceltique zu erleben.


Der Nachmittag ist fortgeschritten und ich drängele mich durch dichten Verkehr aus der Stadt heraus. In dem verbleibenden Tageslicht treibe ich an der Küste entlang und genieße im mittelalterlichen Concarneau die Ruhe der Nebensaison.
Auf einem Zipfel der südwestlichsten Halbinsel der Bretagne finde ich einen Platz für das Zelt und gleite mit den intensiven maritimen Eindrücken des Tages ins Land der Träume. Die einsetzende nächtliche Flut untermalt mit dem donnernden Brandungsrauschen die Macht und Kraft des Meeres. Es ist sternenklar, die Temperatur sinkt auf 4 Grad Celsius.


Fischer

Bei solchen Temperaturen schüttelt sich selbst meine Bella am nächsten Morgen. Es dauert eine Weile bis das Öl warm ist und der Motor rund läuft. Auf dem Weg zum Pointe de Penmarc’h nutze ich jede Gelegenheit mir an den Ventildeckeln die Finger zu wärmen. Das Kap gilt als das Zweitgefürchtetste der Westbretagne. Daher wurde 1897 ein massiver Leuchtturm aus Granit errichtet. Mit einer Höhe von 65 Metern überstrahlt er die gesamte Landzunge und wirft sein leitendes Licht weit auf das Meer hinaus.



Ein Stück weiter nördlich steht direkt am Meeresufer eine mehr als 500 Jahre alte Kapelle. Alljährlich am 15. August gibt es ein Pardon, eine Art Prozession, das auf die Tradition zurückgeht, an diesem Ort als Schiffbrüchiger der Jungfrau Maria zu danken.



Ich würde mich wahrlich nicht als gläubig bezeichnen, aber solche Orte haben etwas andächtig Mythisches an sich...



Da nicht nur die Motoröltemperatur, sondern auch die Blut-Temperatur des Piloten von Bedeutung ist, beschließe ich die nächstgelegene Bar aufzusuchen, um zu frühstücken. Auf meiner Karte fünf Millimeter entfernt liegt ein Ort namens Saint-Guénolé. Dort endet auch die Straße auf dieser Landzunge. Viel später lese ich im Reiseführer etwas von „…lebhaften Fischereihafen…“ und lache mich scheckig. Ich habe immer schon das Gefühl gehabt, das die Autoren hauptsächlich voneinander abschreiben und nicht in jedem Fall wirklich wissen worüber sie schreiben. In Saint-Guénolé ducken sich die kleinen Häuser vor den starken Stürmen. Es gibt einen Fischereihafen, einen Fischverarbeitungsbetrieb, einen (Kühl-)Eishersteller, eine Motorenschlosserei, eine Bank (deren Bankautomat nicht einmal EC-Karten akzeptiert, nur einheimische Karten) und zwei (!) Bars. Das war’s. Auf die Straße bzw ins Freie gehen die Menschen nur zum Rauchen und wahrscheinlich beim Einlaufen der Trawler. Nicht einmal streunende Katzen ziehen durch die Gegend. Also ehrlich, lebhaft ist anders.


Aber gerade deswegen hat der Ort einen eigenen Charme. Ich lande in der Bar Chez Cathy. Alles ist authentisch maritim und fern von Kitsch. Pensionierte Fischer sitzen um einen Tisch herum. Hin und wieder kommt der ein oder andere aus dem Fischbetrieb für eine Kaffepause in die Bar. In einer Ecke liegen ein paar Bildbände über die Pecheurs und ich blättere neben dem Kaffee durch die Bücher und bin schwer beeindruckt. Das Meer schenkt einem nichts. Auch heutzutage ist es auf See kein einfaches Leben.


Bar "Chez Cachy" in Saint Guénoblé







Wer in die Welt der bretonischen Fischer in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eintauchen will, dem sei der Roman „Islandfischer“ von Pierre Loti wärmstens empfohlen. Loti, selbst Seemann, veröffentlicht das Buch 1886. Von 1852 an fährt die Fischerflotte von Paimpol nach Island. In den achtzig Jahren der Islandfischerei erleiden mehr als hundert Fahrzeuge Schiffbruch. Mehr als 2000“ Islandais“ lassen ihr Leben auf dem Meer. „Der Roman ist echte Meerespoesie und die Anschaulichkeit der elementaren Gewalt des Meeres ist gleichermaßen von furioser und kontemplativer Wirkung“ (Susanne und Michael Farin). Das Buch wird zum Bestseller seiner Zeit.
Ich setze meinen Weg nach Norden in Richtung Brest fort und in meinem Kopf kreist ein Ausspruch, ich glaube von Sir Walter Scott : Es ist nicht Fisch, den du kaufst, es ist das Leben von Männern.


Navigation

Nach so viel Seefahrt ein Wort zu meiner eigenen Navigation. Ich würde mich hinsichtlich digitaler Navigatoren nicht als technikfeindlich bezeichnen, aber unterwegs mag ich einfach lieber mit einer analogen Karte auf dem Tankrucksack fahren. Da sich mein Navigationsgerät zwischen den Ohren und nicht am Lenker befindet, verhakt es sich auch nicht mit dem großen Tankrucksack.

Die Routenführung dieser Tour ist allerdings auch vergleichsweise einfach – Einfach das große Wasser auf der linken Seite lassen. Dennoch ergibt sich bei einer Karte im Maßstab 1 : 1 Million der ein oder andere Überraschungsmoment. So werden mir tiefe Einblicke in die Agrarstruktur der Südbretagne gewährt, als ich nach diversen Schleifen über Land dreimal aus verschiedenen Richtungen kommend im selben Ort lande. Dabei steigt die Spannung umgekehrt proportional zum abnehmenden Pegelstand im Benzintank. In manchen Regionen gibt es schlichtweg keine Tankstellen, die typische großstädtische Verbrauchergewohnheiten befriedigen und den Bedarf an Benzin, Bier und Brötchen decken. 

Da die einzigen Höhepunkte mancher Orte eh die großen Supermärkte sind, stopft man die Lebensmittel konsequenter Weise nicht in die Tankstellenregale, sondern hängt die Tankstelle an den Supermarkt, genauer gesagt nur die Zapfsäulen. Und die automatischen Bezahlterminals. Offenbar geht man davon aus, dass sich eh keine Fremdlinge dorthin verirren und vereinfacht die Terminals , so dass man nur (und das heißt ausschließlich, ohne Ausnahme) mit der Supermarktkreditkarte bezahlen kann. Was mitten im Atlantik, kurz vor dem Polarkreis auf Island funktioniert , nützt hier rein gar nichts, nämlich die normale Kreditkarte. Nach über 250 gefahrenen Kilometern mit einem Durchschnittsverbrauch von 5 bis 6 Litern, werde ich dann angesichts des 17,4 Liter Tanks doch etwas nervös.


Endlich mal keine Supermarkt Tankstelle. Nützt aber auch nichts. - Geschlossen!

Wegbeschreibung zur nächsten Tankstelle


Mehr als einmal bleibt mir nichts anderes übrig, als einheimische Tankkunden (die mit der richtigen Karte) anzusprechen, kurz mein kleines Problem zu schildern, einen freundlichen und vertrauenswürdigen Eindruck zu machen und zu hoffen, dass ich mit auf ihrer Karte tanken kann und sie entsprechend in bar auszahle. Ich versichere, es hört sich lustiger an, als es in der Realität ist und ich bin sehr froh, durchweg auf verständnisvolle und hilfsbereite Mitmenschen zu stoßen.

Brest zählt zu den bedeutendsten Großstädte der Bretagne. Das verdankt die Stadt nicht einer besonderen wirtschaftlichen Stärke oder kulturellen Errungenschaft, sondern eher der militärischen Vergangenheit und Gegenwart. Brest avancierte zum größten Marinestützpunkt des Landes und auch die Atom-U-Boote der Flotte sind hier beheimatet. Ich bin soviel Großstadtgewusel gar nicht mehr gewöhnt und bin heilfroh, als ich nach dem zweiten Anlauf die Stadt auf der richtigen Achse in Richtung Norden verlassen kann.

Im Bereich der bretonischen Nordküste treffe ich auf eine schroffe Küste. Der hier vorherrschende Granit modelliert zum Teil bizarre, oft steil abfallende Klippen. Aber an vielen Stellen finden sich auch wunderschöne Sandstrände, die einen ungeahnten Kontrast darstellen. In manchen Buchten haben sich Fischereihäfen angesiedelt.



Ich genieße das Dasein und cruise vorbei an Buchten und steilen Küsten. An einem Morgen bin ich zum Sonnenaufgang am Cap Fréhel. Das ist einfach nur unbeschreiblich schön.


Cap Fréhel


Küstenlandschaften



Bei der Ansteuerung von St. Malo spielt mir der Zufall wieder glücklich in die Hand und ich lande in dem Nebenort St. Servan anstatt in St. Malo. Für eine entspannte Pause ist es dort jedenfalls sehr viel lauschiger. Mit einem Navi wäre das nicht passiert



Navigationsirrtum St. Servan


Landungsunternehmen

Armorica, das beeindruckende Land am Meer, liegt nun hinter mir. Das Meer selbst bleibt mir aber erhalten. Und zwar zunächst in einer ganz besonderen Art. Die Baie (Bucht) du Mont St. Michel ist so ungeheuer flach, dass bei Niedrigwasser Flächen in einer Dimension trockenfallen, die den Strand von St. Peter Ording als schmales Strandhandtuch erscheinen lassen.


Strandsegler


Was für die Strandsegler ein Eldorado ist, stellt die Fischer vor eine echte Herausforderung. Jeder Fang ist auch ein Landungsunternehmen. Die kleineren Kutter (bis 10 Meter) werden einfach mit Traktoren dahin gefahren, wo die Fische leben. Die größeren Fangeinheiten begeben sich gleich auf eigener Achse dorthin.
Der Begriff des „Fischereifahrzeuges“ bekommt da eine ganz neue Bedeutung.
Ich greife dieses Konzept sofort gedanklich auf und spinne ein Geschäftsmodell, wie man solche Fischereifahrzeuge an den Nordseefischermann bringen und sich in der Folge vorzeitig in den Ruhestand begeben könnte. Das wäre doch ein Traum. Außerdem entfiele damit auch dieses lästige Fahrrinnengebaggere an der deutschen Nordseeküste.

Fischereifahrzeug   :)


Ein befreundeter Insider klärt mich nach meiner Rückkehr über das etwaige Genehmigungsverfahren auf :…der gute deutsche Beamte prüft pflichtgemäß erstmal seine Zuständigkeit und, erkennt hier messerscharf, dass das Teil eine amphibische Komponente hat … kann ja schließlich auch auf Straße ! >> ergo : Hochleistungsschifffahrtsverwalter sind erstmal nicht zuständig (der Vorgang macht ja erkennbar Arbeit) und verweisen demzufolge an die Straßenverwaltung. Wer weiß schließlich ob das Teil mehr auf der Straße oder mehr im Wasser unterwegs ist, wer also die sog. Federführung hat ??? Da das immens wichtig ist und erst geklärt werden muß, müßte sich der Antragsteller mit Genehmigungen schon ein wenig gedulden und in der Zwischenzeit parken + Gebühren zahlen (ist ja schon mal was !) …‘nen paar Jahre kann die Klärung unter Ausleuchtung aller rechtlichen Aspekte allerdings schon dauern !!! Und bis dahin kann die Zuständigkeit intern ja auch gewechselt haben> hoffentlich !


Ok, ok. Ernüchtert stelle ich fest, dass ich auch weiterhin jeden Morgen ins Büro fahren muss.


Am heiligen Michel Berg scheinen japanische Invasionskräfte die Landung der Alliierten nachstellen zu wollen. Obwohl ich dem Getümmel auf schnellsten Wege entfliehe werde ich durch etliche Cybershotflinten angeschossen. Wahrscheinlich stellt Honda im nächsten Jahr ein Modell im Griso Design vor.



Auf der Cotentin Halbinsel genieße ich die Leichtigkeit des Seins. Das Fahren ist entspannt und sorgenfrei, denn dank TOTAL stellt es keine logistische Raffinesse mehr dar, den Tank mit Benzin zu füllen. Östlich von Cherbourg staune ich über die feinen Sandstrände.

Was zunächst nach einer Landung von Außerirdischen aussieht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Wasserturm.


Außerirdisch


Die Briten landen hier regelmäßig und in nicht geringer Anzahl. Straßenschilder mit dem Hinweis "KEEP RIGHT" sorgen für die richtige Orientierung.


Selbsterklärend 


Very British


Very british ! - Die Landstriche beiderseits des englischen Kanals ähneln sich auf frappierende Weise. Unbetrachtet politischer Grenzen funktionerte die Region als Wirtschaftsraum wahrscheinlich mit einer gewissen Eigendynamik. Zu mindestens der Schmuggel dürfte über Jahrhunderte Konjunktur gehabt haben.


Utah Beach

Utah Beach im Norden von La Madeleine dürfte wohl der ultimative Inbegriff eines Landungsunternehmens sein.


Am 6. Juni 1944 um 06:30 legte die 4. US Infanteriedivision General Bartons den Grundstein für einen Brückenkopf, womit die eigentliche Invasion der Alliierten begann und für Europa erneut die Pforte in die Freiheit geöffnet wurde. 836.000 Soldaten, 220.000 Fahrzeuge und 725.000 Tonnen Ausrüstung wurden hier an Land geschafft.



Ich besuche das gut gestaltete Museum und bin angesichts der Nachsaison froh, mich mit der gebotenen Ruhe und dem nötigen Respekt dem Thema nähern zu können.


Gegensätze

Zwischen Caen und der Seine Mündung bei Le Havre, geht es hochgradig touristisch zu. Die relative Nähe zu Paris sorgt selbst in der Nachsaison für eine gewisse Frequentierung. Froh, nicht in der Ferienzeit hier zu sein, genieße ich die Badeorte und die abwechselungsreiche Küstenstraße. Als Tagesziel scheint mir Deauville willkommen. Was immer auch die Inspiration für die Bezeichnung des gleichnamigen Honda Modells gewesen sein mag, als zuverlässige Großstadtalltagsmaschine hat das Motorrad bestimmt berechtigterweise seine Anhänger. Aber hier in Deauville, wo Mutti die Kleinen mit dem Porsche Cayenne zum Strand kutschiert, fährt Mann Ducati, Harley, BMW und was sonst noch teuer ist. Den Plan in einem netten Strandbistro noch einen Happen zu futtern verwerfe ich aus Gründen mangelnden Budgets. Zudem bezweifle ich, dass man mir in meiner Ledermontur überhaupt irgendwo Einlass gewährt hätte. Alles wirkt ausgesprochen abgehoben. Hier trifft sich der Pariser Jet Set.

Deauville, Yachthafen und Casino


Dieppe am Tag darauf stellt einen sehr harten Kontrast dar. Wieder auf dem Weg zu einem vermeintlichen Strandbistro verfange ich mich in einen Einbahnstraßengewirr und lande in einem runter gekommenen Viertel, welches ohne Retusche als Kulisse für einen modernen Film Noir herhalten könnte. An einer Straßenecke steht eine junge Frau kreischend und gestikulierend vor einem Typen. Noch bevor ich die Situation und ein mögliches Eingreifen abwägen kann, wird klar, dass daran wohl kein Bedarf besteht. Sie hat ihm ordentlich eins auf die nun gebrochene Nase gegeben und scheint auch ansonsten alles im Griff zu haben. Ich lande letztendlich bei einer siffigen Fritten-Bude und esse die besten Pommes meines Lebens.


Déjà vu

Aber zunächst lasse ich Deauville Deauville sein, entere noch schnell den nächsten Supermarkt und setze meinen Weg fort. Bereits wenige Kilometer später entdecke ich einen Campingplatz, der vermutlich noch nicht geschlossen ist. Der Betreiber, den ich bei der Einfahrt für eine gärtnerische Hilfskraft halte, lässt mich erst fünf Minuten dumm rumstehen, bevor er sich bequemt meine Anmeldung entgegen zu nehmen. Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass wir keine guten Freunde werden. Die Erinnerung an mein damaliges Campingspitzenerlebnis ist plötzlich eigenartig präsent. Da ich heute nicht weiterfahren will, hüte ich meine Zunge und nehme mir vor zurückhaltend zu sein und vor allem zu bleiben.


Soweit geht alles gut und ich habe einen absolut geilen Platz für mein Zelt. Die Sonne versinkt am Horizont des weiten Atlantiks, Segler ziehen durch das glutrote Licht und Le Havre am gegenüberliegenden Seine Ufer wird in ein märchenhaftes Licht getaucht.

Blick aus dem Zelt, Atlantik-Sonnenuntergang


Lediglich die Tatsache, dass ich nicht heute bezahlen und meinen Ausweis zurück erhalten konnte, macht mich leicht skeptisch. Aber der gute Mann hat mir versichert, er sei am folgenden Tag (am Sonntag ! in der Nachsaison !) wie angeschlagen ab 0830 in seinem Büro oder doch zu mindestens telefonisch erreichbar. Nachtigall ick hör dir trapsen. Ich gebe letztendlich aber nur deswegen klein bei, weil er, um seiner Glaubhaftigkeit Nachdruck zu verleihen, auf das Haus auf dem Gelände weist, in dem er wohnhaft ist.


Wegen der fortgeschrittenen Jahreszeit und den damit verbundenen kurzen Tagen bin ich auf frühe Starts angewiesen. 0830 bedeutet, dass ich bereits eine gute halbe Stunde Tageslicht verschenke. Ich stehe ansonsten um 0715 im Halbdunkel auf, um gegen 0800 mit dem ersten brauchbaren Licht loszukommen.


Silhouette meiner Bella im Reisedress


Abends versuche ich zwischen 1800 und 2000 einen Platz für das Zelt zu finden. Das ergibt einen sportlichen Reiserhythmus. Im Schnitt bin ich zehn bis zwölf Stunden unterwegs und sobald das Zelt steht schlafe ich volle zehn Stunden. Einen wunderbaren tiefen Schlaf, begleitet von einem mächtigen Brandungsrauschen. Dazu bedarf es gar keines Windes. Alleine die Kraft der nächtlich auflaufenden Flut reicht aus, die Wassermassen brechen zu lassen. Auf allen Campingplätzen bin ich bisher auf außerordentlich nette und zuvorkommende Betreiber gestoßen.


Bisher jedenfalls. Aber an diesem besagten Sonntag morgen stehe ich um 0830 mit meiner Guzzi reisefertig vor der Reception und außer mir ist natürlich überhaupt niemand auf den Beinen, womit ich auch nicht wirklich gerechnet habe. Um 0832 spricht auf meinem Handy ein automatischer Anrufbeantworter zu mir, den ich überhaupt nicht hören will, denn sein Besitzer wird sich in Telefon ignorierender Weise genüsslich auf die andere Seite drehen. Um 0835 stehe ich vor dem Haus. Außer verschlossene Türen gibt es nichts, nicht einmal eine Klingel oder Glocke. Um 0837 steht meine Bella auf der Terrasse. Und um 0839 steht der Betreiber im Schlafanzug in der Terrassentür und deutet mir an, dass ich den Finger von der Hupe nehmen soll, was ich natürlich gerne tue. Um 0845 bin ich ab vom Hof.


Unerwartet

Unerwartet erwischt es mich gleich mehrfach an diesem Tag. Nach dem verzögerten Start bin ich zunächst bestrebt etwas Zeit aufzuholen. Das funktioniert hervorragend, zu mindestens auf den ersten zehn Kilometern.


Dann stoße ich auf das kleine Hafenörtchen Honfleur. Es ist derart pittoresk, dass ich spontan die für Le Havre geplante Frühstückskaffeepause vorverlege und einfach vor einer Bar sitzend die Atmosphäre des frühen Tages genieße.


Petit d'jeuner


Auf einer gigantischen Brücke mit einem aufregenden Design überquere ich die Seine. Der Blick über die Seine Mündung hinaus auf den Atlantik ist atemberaubend. Le Havre ist schnell erreicht. In Anbetracht der Straßentrassen bin ich froh, dass Sonntag ist. Werktags dürfte der Verkehr hier richtig brummen.


Unerwartet nüchtern kommt mir die Stadt mit dem schwingenden Namen vor. Andererseits bedeutet der Name nun einmal nichts anderes als „der Hafen“. Und der große Industriehafen macht diesem Namen alle Ehre. Na ja und der Hafen versprüht eben den Charme, den funktionale Industriehäfen so an sich haben. Der alte Hafen befindet sich näher am Stadtzentrum. Mit einem schicken Feuerschiff, ein paar Bistros und Bars entwickelt sich diese Gegend allmählich zu einem beliebten Treffpunkt.
Die alten Betondocks vermitteln den Eindruck, als stammten sie noch aus der Zeit, in der graue längliche Boote einer fremden Nation dort Station gemacht haben. Ähnlich nüchtern ist ein Großteil der Architektur. 

Dagegen ist das Osloer Rathaus das reinste Rokoko-Schloß. Freundlich und einladend wirkt das nicht und ich peile nach einer Richtung, um die Stadt schnell verlassen zu können. Ominöse Baustellenumleitungen (darin sind unsere westlichen Nachbarn wahre Großmeister) machen die Sache nicht leichter. Ich bekomme eine Verkehrsachse zu fassen, vermute aber, dass ich auf der Inlandschnellstraße landen werde. Da ich definitiv der Küste folgen will, kehre ich um. Nachdem ich irgendwann den Leuchtturm zu fassen habe, bin ich sicher nun richtig zu sein und freue mich auf einen entspannten Trip entlang der Küste.


Unerwartet nehme ich im Augenwinkel in einer Nebenstraße Leute und ein besonderes Sportboot wahr. Meine Neugier ist geweckt, ein Blick in den Rückspiegel, über den Gehweg umgekehrt in die Einbahnstraße und schon stehe ich direkt…vor der Polizei, genau genommen vor einem Informationsstand der Polizei. Ich bin mitten in einem Straßenfest eines hübschen Altstadtviertels gelandet und alle Beteiligten richten gerade ihre Stände ein, wie eben auch die Polizisten. So unauffällig wie möglich (also gar nicht) stelle ich meine Guzzi ab, was den Polizisten völlig schnuppe ist und mische mich unter die Besucher des beginnenden Festes.


Flohmarkt, Kunsthandwerk, Kaffee und Kuchen, Künstler, Kulturschaffende, Oldtimer und vieles mehr ergeben ein buntes Bild. Und mit dabei Pascal Tesniere, einer der wagemutigen modernen Abenteurer, die es wagen, solo mit ihren speziellen Bootskonstruktionen nicht nur über den Atlantik zu rudern, sondern das Ganze auch noch in 40 - 60 Tagen im Rahmen einer Regatta zu absolvieren. Es dürfte nicht schwer fallen zu erraten welchen Stand ich zu allererst aufsuche…

Atlantik-Ruderer





Obwohl ich fremd bin, wirkt die Atmosphäre heimelig. Es mag vielleicht zehn Uhr sein und der Stadtteil erwacht. Die Anwohner kommen aus ihren Häusern, man begrüßt sich, parliert hier und da und nimmt ein Käffchen dazu. Alle sind freundlich und es herrscht eine angenehme Stimmung. Ich lasse mich gerne davon anstecken und schlendere durch die Gassen.


Die plötzlich wahrnehmbaren Tango Klänge stellen die Krönung dieser Zusammenkunft dar. Auch wenn sie für die Tageszeit eher ungewöhnlich sind, ziehen sie mich magisch an. Ich folge den zauberhaften Klängen und lasse mich nieder. Gleichzeitig gedankenschwer und gedankenleer schaue ich einem tanzenden Tangopaar zu.
Nur wer selber einmal Tango Argentino getanzt hat, weiß was es heißt, der Tango sei in der Umarmung geboren. Ich habe beim Tango stets die lustvolle Freude des Tanzes gelebt, die dunkle melancholische Seite war mir immer fremd. Aber ausgerechnet hier, in dieser freundlichen Atmosphäre werfen die schweren Wolken der Melancholie unerwartet ihre Schatten über mich. Vielleicht ist es die unterbewusste, seismische Wahrnehmung eines entfernten Bebens, das zwei zusammengehörende Schollen auf ewig auseinander reißen wird.

An dieser Stelle möchte ich einfach nur einige Sätze aus der Galeriatango in Kiel zitieren:
Tango Argentino…ein Bandonéon erklingt erst melancholisch, dann frech und keck, ein Tanzpaar nimmt sich in den Arm.


Er führt die Bewegung an – sie antwortet, begleitet, verziert, verzögert … Es wird spannend : Vier Füße beginnen wortlos miteinander zu kommunizieren. Kein Reglement grenzt dies Spiel ein, es geht um nichts und doch um alles.

Tango in Le Havre


Als ich wieder bei mir bin, lausche ich noch etwas der Musik. … und …haben längst aufgehört zu tanzen. Ich hätte sie gerne noch fotografiert. Nun muss ihr Poster für die Pose herhalten. Die großen Momente auf Reisen lassen sich selten ablichten.


Unerwartet ruhige Momente einer schnellen Reise, von schmerzhafter Intensität.
Ich kehre zu dem Leuchtturm zurück, als könne er mir inneren Halt geben. Noch ein ausgedehnter Blick auf das Meer, tief durchatmen und auf neuem Kurs weiter.

Leuchtturm Le Havre


Mensch und Maschine

Es dauert eine Weile bis ich meinen Rhythmus wiederfinde. Die Landschaft ist vordergründig nicht so aufregend wie in Armorica. Ich bewege mich quasi auf einem über dem Meer liegenden Tafelland. Zur linken Hand liegt der englische Kanal und eine zunehmend steilere Kliffküste, während zur Rechten der Blick über weite Felder schweift. Alles ist von großer Weite geprägt, eine Landschaft nach meinem Geschmack.
Irgendwann rutsche ich intuitiv mit dem Hintern ein Stück nach achtern bis der Widerstand des Packsackes spürbar wird. Die Arme sind durch die breite Lenkstange etwas aufgespreizt und der Oberkörper neigt sich eine Nuance weiter nach vorne und bekommt Kontakt mit dem Tankrucksack. Mein Körper wird zum optischen Echo der Silhouette der langgestreckten, Raubkatzen gleichen Griso.


Die Fußspitzen zeigen leicht nach unten, die Position der Rasten liegt kurz hinter den Fußballen und die Fersen liegen an den Rahmenplatten an. Mit den Knien am Tank ergibt sich ein Kraftschluss, der mich vollends mit der Guzzi verschmelzen lässt.
Wie ein Seidenschal in der leichten Brise windet sich die Küstenstraße über das hohe Land. Dazu die Weite des Meeres bis zum Horizont. Die wenigen Ortschaften liegen in tiefen Taleinschnitten direkt am Wasser. Rasant schmiegt sich die Straße in das steile Gelände. Selbst die ein oder andere Serpentine, gewissermaßen die Königin der Kurven, verlangt anspruchsvoll nach ihrer Linie.

Kurvenswing entlang der Küste


Mensch und Maschine sind längst nicht mehr trennbar. Eine Änderung des Blicks oder ein Vorschieben einer Schulter und sei es noch so gering, werden mühelos, ohne jegliche menschliche Verzögerung in Wirkung umgesetzt.


Zu Beginn einer Rechtskurve geht die rechte Schulter leicht nach vorne. In der Folge drückt der Arm das Lenkerende nach vorne und das Geschöpf aus Fleisch und Stahl neigt sich nach rechts. Die Rumpfmuskulatur der linken Seite zieht sich zusammen während sich der Druck auf der linken Fußraste erhöht. Ist der Scheitelpunkt passiert beschleunigt das V2 Herz mit sonorigem Brummen aus der Kurve heraus.


Erst in diesem vollkommenen Kraftschluss mit der Maschine ist es möglich mit den anderen beteiligten Kräften der Physik zu spielen, sie auszuloten. Erst dann führt die perfekte Linie mit der perfekten Geschwindigkeit zu den besonderen Momenten der Schwerelosigkeit. DAS sind für mich die Momente der Freiheit des Motorradfahrens.
Mit der tiefer stehenden Sonne lebt ein pulsierendes Schattenspiel auf, welches wechselweise je nach Kurvenlage ein gedrungenes oder langgezogenes Konterfei entstehen lässt. Ich kann es gut aus dem rechten Augenwinkel wahrnehmen und es kommt mit vor, als würde ich frei / losgelöst über dem Geschehen schweben und auf mein eigenes Fahren herabschauen.


Getragen von diesem Gefühl der „Fahrszination“ gelange ich bis zum Tagesende noch in die Gegend südlich von Dünkirchen. Auf dieser Tour ist es ist mein letzter Abend an dem ich mit dem Rauschen der Brandung wegdämmere. Noch lange wirken die Wellen des Fahrens und des Tages nach. Es war ein langer Weg und noch bin ich nicht angekommen.

Eine gut funktionierende Einheit - Maschine...


...und Mensch



Text und Fotos Andreas Thier 09/2011