Grisocomodo
  Motor-Rad-Reisen

Baltikum Tour 2016

Eine Liaison


...mag mit einem vorsichtigen Blick beginnen. Den Herzschlag erhöht sie allemal. Was aus einem ersten aufregenden Gefühl entsteht, ob es trägt und sich bewährt, muss sich erst zeigen.


Liaison


Ich habe erst zweimal richtig auf meinem neuen Pure Bros gesessen. Dabei sind zwar einige Kilometer zusammengekommen und es ist das Gefühl einer neuen Leidenschaft entstanden, ob das Rad jedoch wirklich alles kann, was ich zukünftig von ihm erwarte, gilt es noch herauszufinden. Was liegt also näher, als die Sache einer echten Bewährung zu unterziehen?


Was braucht es dazu? Etwas Zeit, ein Ziel und geeignetes Terrain.
Zur Ideenfindung bevorzuge ich noch immer den guten alten Diercke Schul-Atlas. Die Karten sind für mich plastischer und regen die Phantasie mehr an, als es digitale Ausführungen vermögen. Ich liebe das Meer, Küstenlandschaften und (nicht zu große) Hafenstädte. Daraus ist irgendwann einmal der Plan entstanden, die gesamte kontinentaleuropäische Küstenlinie auf zwei Rädern zu bereisen. Nur wenige Abschnitte sind noch unbereist. Der Blick auf die Europaübersichtskarte lässt einen Entschluss reifen.


Die Entscheidung fällt für das Baltikum. Dort dürfte es noch Naturstraßen geben (besondere Bewährung) und es liegt quasi bei mir um die Ecke. Also nicht ganz, aber fast. Baltikum leitet sich von mare balticum, der mittelalterlichen Bezeichnung für die Ostsee, ab. Geografisch wird die Bezeichnung für das Gebiet der Staaten Litauen, Lettland und Estland verwendet. Und da muss ich ja erst einmal hin. Obwohl mir die Küste von Schleswig-Holstein und Mecklenburg Vorpommern bestens bekannt ist, entscheide ich mich dagegen, diese mit dem Zug zu überbrücken. Ich genieße Touren besonders, wenn ich direkt von zu Hause aus aufbrechen kann. Das hat so etwas von ‚in die Welt hinaus fahren‘. Das nördliche Schleswig-Holstein ist eine ideale Ausgangsbasis für meine Tour ins Baltikum. Denn bereits Polen ist für mich Terra incognita. Außerdem dürfte die Fahrt entlang der gesamtdeutschen Küste nicht mehr als dreieinhalb Tage in Anspruch nehmen. Ich betrachte sie als Einrollphase, bevor es in die mir unbekannten Regionen geht.


Ich zirkel die Entfernungen ab und überschlage, was in den Zeitrahmen passt. Das Ziel zeichnet sich ab. Tallin! Das klingt spannend. Zudem komme ich von dort auch wieder gut retour. Zur Wahl steht ein Rückflug Tallin–Hamburg oder Fährpassagen von Tallin nach Helsinki und von dort nach Travemünde. Die Entscheidung fällt für die entschleunigte Seereise. Da kann die Seele Schritt halten und ich kann die Tour noch einmal in Ruhe Revue passieren lassen. So der Plan. Natürlich schiele ich auf meiner Karte nach St. Petersburg. Nur zu gerne würde ich von Tallin auf dem Landweg über St. Petersburg nach Helsinki radeln. Aber dafür reicht mein Zeitkontingent leider nicht aus. Die Eckdaten der nun geplanten Tour: - Strecke: 2.000 bis 2.200 km / Zeit :21 Tage ,davon vorgesehene Fahrtage: maximal 18.

Die Route


Damit ist alles klar. Ich beschaffe mir die nötigen Straßenkarten (1:300.000) und schneide sie so zurecht, dass ich kein unnötiges Papier durch die Gegend fahre. Die Navigation sollte denkbar simpel sein. Einfach das mare balticum links liegen lassen. Solange das große Wasser zur linken Hand liegt, bin ich richtig. Die Ausrüstung ist rasch zusammengestellt. Da ich Wert auf Unabhängigkeit lege, kommen Zelt, Schlafsack und Isomatte mit. Unter meinen technischen Equipment befinden sich u.a.: Reserve Faltreifen, Luftpumpe mit Manometer, Ersatzspeichen, Zahnkranzabzieher, Kettennietdrücker, Kettenverbindungsglied. Alles in allem komme ich auf 10,5 kg inklusive Taschengewicht. Das sollte ein flottes Vorankommen ermöglichen.


Die Ausrüstung


Fast könnte es losgehen. Aber ich muss mir vorher noch Verwandte kaufen. Nein, das ist nichts Illegales oder moralisch Verwerfliches. Da ich nun einmal konsequent der Küstenlinie folgen will, werde ich selbstverständlich nicht um Kaliningrad herumfahren. Kaliningrad ist diese Oblast der Russischen Föderation, welche komplett von Ostsee und Drittstaaten umgeben ist. Außerdem gefällt mir der Gedanke, mit dem Fahrrad ‚nach Russland‘ zu reisen. Also benötige ich ein Visum. Da ich keinen Tag Schlange stehend bei einem Konsulat verbringen will, beauftrage ich eine Agentur mit der Visumbeschaffung. Entgegen anfänglicher Skepsis (ich muss immerhin meinen Reisepass an eine mir unbekannte Agentur senden) funktioniert die Abwicklung absolut reibungslos. Da ich keine vorgebuchten Unterkünfte vorweisen kann, brauche ich eine private Einladung für den Visumantrag. Tja, und die beschafft die Agentur selbstverständlich auch (gegen Entgelt). Na, da bin ich ja mal  gespannt, ob mich die lieben Verwandten, denn auch an der Grenze begrüßen werden, geht es mir durch den Sinn.


Eine weitere Startvorbereitung besteht darin, die richtigen Reifen aufzuziehen. Die Sportreifen (Conti GP 4 Season) werden gegen Conti Touring Plus gewechselt. Mit diesen Pneus habe ich keine Erfahrungen, aber die Eckdaten sind vielversprechend: Maximaldruck 7 bar, sehr guter Pannenschutz und griffiges Profil, welches dennoch auf der Straße gut rollen sollte. Ich entscheide mich für die 28 mm Variante. Größere Reifendurchmesser sind erhältlich. Ein interessanter Test für zukünftige Touren in vielleicht noch rauerem Terrain…



Schlumpfi muss mit


Am ersten Augustwochenende geht es endlich los. Haustür abschließen und einfach losfahren. Welch befreiendes Gefühl. Ich rolle entspannt vor mich hin und gehe unweigerlich im Kopf noch einmal meine Ausrüstung durch. Am liebsten vergesse ich Reserve-Schalt- und Bremszüge. Dadurch verfüge ich bereits über eine ansehnliche Sammlung, von unterwegs sicherheitshalber doch noch gekauften Bowdenzügen. (Noch nie ist mir auf einer Tour ein Bowdenzug gerissen. Aber ich lebe mit der tiefen Gewissheit, wenn mal ein Zug reißen sollte, geschieht dies in der entlegensten befahrbaren Bergwüste des Planeten. Kurzum – ein Reservedraht gehört bei mir mit ins Gepäck.) Dieses Mal habe ich vorgesorgt. Somit kann ich eigentlich nichts vergessen haben.


Freie Fahrt


Noch ist der Gedanke ungewohnt, frei von Alltagszwängen, für drei Wochen auf dem Read unterwegs zu sein. Meine Gedanken kreisen um das, was vor mir liegt, als mich in Kiel die ersten Regentropfen treffen. Zielsicher greife ich in die Lenkertasche nach meinen Überschuhen. Und stelle fest, dass ich die alten mit den großen Löchern erwischt habe, als ich in den Schrank griff. Na toll. Normalerweise bewahre ich kein unbrauchbares Zeug auf. Aber in diesem Fall wollte ich die Reflektoren heraustrennen. Offenbar ist es bei der Absicht geblieben. - Bowdenzüge wären einfacher zu beschaffen, kommt es mir schmunzelnd in den Sinn. Zum Glück ist es Samstag und zum Glück liegt ein großer Radausstatter auf meiner Route. Ich lege dort einen kurzen Stopp ein und statte mich aus. (Die alten Überschuhe landen direkt und endgültig in der Tonne.)


Von zu Hause aus zu starten bietet zwar dieses In-die-Welt-hinaus-fahr-Gefühl, aber der unmittelbare Teil dieser Welt ist natürlich nicht ganz unbekannt. So ist der erste Tag auch von Freistrampeln und von ‚hinter sich Lassen‘ charakterisiert. Es heitert wieder auf und ein angenehmer Westwind unterstützt meine Fahrt nach Osten. Ich bin wirklich sehr gespannt, was mich auf der Fahrt ins Baltikum erwartet, was ich entdecken werde. Und ob meine grobe Planung passen wird. 111 Kilometer stehen durchschnittlich auf dem Tagesprogramm, um die Rückreise termingerecht antreten zu können. Explizite Puffertage sind nicht einkalkuliert. Ich gehe davon aus, an den guten Tagen ausreichend Kilometer für die schlechten Tage herausfahren zu können.


Allmählich gelingt es mir, Kiel und den Alltag abzuschütteln. Da ich Schleswig-Holstein nun wirklich gut kenne, folge ich hier ausnahmsweise nicht der Küste, sondern fahre direkt über schmale Landstraßen in Richtung Travemünde. Landschaftlich ist es dennoch ein Genuss. Ich fahre flott, möchte mich von zu Hause freifahren. Mit der Trave erreiche ich die erste geografische Grenze. Die Priwall Fähre bringt mich auf das gegenüberliegende Ufer ins Bundesland Mecklenburg Vorpommern. Das untermauert das Gefühl gut voran zu kommen. Und es ist nicht nur ein Gefühl, denn ich habe bereits rund 140 Kilometer auf der Uhr und es ist erst früher Nachmittag.


Priwall Fähre


Froh, dem touristischen Rummel Travemündes entkommen zu sein, setze ich die Fahrt in ruhiger Umgebung fort. Die Übernachtungsmöglichkeiten sind ebenso rar wie ausgebucht. Es ist Ferienzeit. Nachdem mir die Partyzustände des überbuchten Boltenhagener Campingplatzes zugetragen werden, verabschiede ich mich innerlich von dem ursprünglichen Tagesziel und stelle mich auf ‚Guerilla-Camping‘ hinter irgendeinem Knick ein. Wenn man eins auf solchen Radtouren lernt, dann ist es sicherlich Gelassenheit und Zuversicht. Irgendwie ordnet es sich immer. Bevor ich mich veranlasst sehe weitere Gedanken darauf zu verwenden, entdecke ich wenige Kilometer vor Boltenhagen das Schild einer Radlerherberge. Von dem ‚Belegt‘-Hinweis lasse ich mich nicht sonderlich beeindrucken und frage nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Mir wird das letzte Einzelzimmer zuteil und ich bin gerade noch rechtzeitig zu Suppe und Kartoffelsalat mit Würstchen. Es ordnet sich eben.


Der Tag endet gemütlich in ruhiger Umgebung. In so ruhiger Umgebung, dass mein Smartphone nur dann einen minimalen Netzempfang hat, wenn ich akrobatisch auf einen Stuhl steige und das Gerät links oben ans Fenster halte. Ich fühle mich bereits weit weg und richtig auf der Tour angekommen. Und das nach nur einem Tag auf dem Rad. Wie wunderbar, welch Entspannung. Von nun an bin ich definitiv im Modus des Radreisenden unterwegs. Mein Interesse gilt den Menschen, die ich unterwegs treffe und natürlich auch den Komplizen, den Radreisenden. So ergibt sich bereits beim Frühstück ein wichtiger Austausch über Ziele, Wege und Straßenbeschaffenheiten. Ich folge nun direkt dem Küstenverlauf und steure auf mein nächstes Zwischenziel zu, ein geografisches und politisches zugleich. Die polnische Grenze, noch rund 320 Kilometer entfernt.


Wismar erreiche ich am sehr frühen Vormittag. Dadurch ist kaum etwas los und ich kann entspannt durch die schöne Hansestadt rollen, die nach dem Dreißigjährigen Krieg unter schwedischem Einfluss prosperierte. Mit 16°C ist etwas kühl. Aber es ist weitestgehend trocken und der Westwind ist auch heute eine gute Unterstützung. Am Salzhaff vorbei führt die Route über Rerik nach Kühlungsborn. Sicher hat man planerisch versucht die Promenade nett zu gestalten. Je nach Geschmack lässt sich sagen, dass es mehr oder weniger gelungen ist. Was meines Erachtens aber wirklich fehlt, ist Charme. Vielleicht bin ich aber auch einfach zu ungerecht, weil ich erschrocken bin, wie wahnsinnig rummelig es ist. Na ja, ich bin ja auch nicht der einzige Mensch, der gerne am Meer ist. Richtig geschockt bin ich dann auch erst in Warnemünde. Hier herrscht purer Kirmesbetrieb. Ich steige freiwillig vom Rad und schiebe es durch die Menschenmassen, was schwer genug ist. Es gibt fast kein Durchkommen. Wo ist das Warnemünde, wie ich es in Erinnerung habe? Zum Glück gibt es noch die alte Fußgängerunterführung bei den Bahnsteigen. Somit gelange ich auf dem kürzesten Weg zur Warnow Fähre. Das Kreuzfahrtschiff nehme ich nur beiläufig wahr. Mein Blick ruht auf dem blauen, gläsernen Turm auf der Ostseite des Stroms. Dort habe ich mal eine Weile meine Brötchen verdient. Die Fähre löst sich vom Ufer. Ich lächle.


Von Bord der Warnow Fähre


Unterwegs zu Hause bin ich jetzt. Und das im doppelten Sinn. Keine zwei Tage bin ich nun auf Achse und fast muss ich schon überlegen wie lange es her ist, meine Haustür hinter mir verschlossen zu haben. Diese Verschiebung von Zeit und Raum liebe ich beim Reisen. Auf der Ostseite der Warnow wird es schlagartig ruhiger und ich überlege, ob es wohl der Trend der Tour ist, dass es nach Osten zunehmend ruhiger wird? Graal-Müritz war tatsächlich mal mein zu Hause. Als erstes radel ich natürlich zu dem Wohnhaus von damals. Ich empfinde es fast als Erleichterung, wie ruhig und nahezu unverändert die Jugendstilvilla an ihrem Ort steht. Überhaupt geht es hier angenehm ruhig zu. Graal-Müritz hat sich viel von seinem Charme erhalten. Spontan entschließe ich es für heute gut sein zu lassen. Bei Heidemarie (im Hotel Heidemarie) bekomme ich einen Platz für die Nacht. Durch den Ort und über den Strand schlendernd, verbringe ich den Rest des Tages mit persönlichen Revival Gedanken. Vieles kommt mir wie gestern vor. Dabei sind über zwanzig Jahre ins Land gegangen. Es bleibt das gute Gefühl irgendwie ein bisschen an der Wiedervereinigung mitgeschraubt zu haben. Hier an der Küste begegne ich immer wieder Objekten, an denen wir damals als Firma mitgewirkt haben. Die Brücken, Hafenanlagen und Werfthallen stehen auch noch alle…..


Ein Glockenschlag ist es, was mir auf der wunderbaren Halbinsel Fischland-Darß fehlt. Ich liebe die Landschaft mit den wunderbaren Stränden und finde eine hervorragende Radinfrastruktur vor. Diese wird auch intensiv von Urlaubern genutzt. Vor Zingst wird es dann wirklich voll und eng auf dem Deichradweg, so dass ich ehrlich gesagt eine Klingel vermisse. (Ich muss mich an dieser Stelle mal outen. Keines meiner Räder ist (aus ästhetischen Gründen) mit so einer Glocke ausgestattet.)  Meine Reisegeschwindigkeit und die zur ‚Eisdiele fahr Geschwindigkeit‘ der Feriengäste passen keineswegs zusammen. Es fällt mir außerordentlich schwer, mich derart zu verlangsamen. Schließlich will ich nach Tallin und nicht nur ins nächste Dorf. Versuche, auf die an sich nicht stark befahrene Straße auszuweichen, werden von Autofahrern äußerst aggressiv gekontert. Ich meine es ist eine Sache, vor Istanbul verkehrsbedingte Nahtoderfahrungen zu machen, weil Trucker einfach keine Fahrräder auf der Straße gewohnt sind. Aber von Autofahrern aktiv abgedrängt zu werden (ohne Not, bei freier Straße ohne Gegenverkehr) ist eine ganz andere Nummer. Hoffentlich ist das nicht auch ein Trend, der sich nach Osten verstärkt.

Ein unheimlich leckerer Milchreis in Zingst versöhnt mich wieder. Die Weiterfahrt verläuft (nahezu) konfliktfrei. Kurz nach zwei erreiche ich gerade rechtzeitig vor einem Wolkenbruch das Stadtzentrum von Stralsund und flüchte mich in das erstbeste Café. Ein Bio-Café mit Bio-Markt und Bio-Kundschaft. Der Vorteil: ich kann einen Yoghurt aus dem Markt im Café zusätzlich zu Kaffee und Kuchen verspeisen. Der Nachteil: Ein Bio-Kunde vor mir  - „Was habt’n ihr so an Kaffe da…“ – lässt sich über das gesamte Angebot von handgepflückten, handverlesenen und handgerösteten Kaffeebohnen und die sieben besonderen Zubereitungsarten des Cafés aufklären, um dann einfach eine Tasse Kaffee zu bestellen.  Aber ich will nicht zu doll lästern. Ich sitze nicht nur trocken, sondern das Café ist wirklich gemütlich.


Ich fahre nicht auf der B 96, sondern auf der B 105, auf der alten B 105 um genau zu sein. Dennoch kommt mir der lyrische Song ‚B 96‘ von Silbermond in den Sinn. Die rund dreißig Kilometer von Stralsund nach Greifswald lassen sich nicht einfach mal so eben wegkurbeln. Auf über zwanzig Kilometer warten viele Kopfsteine. Eigentlich keine gute Grundlage zum Radfahren, aber ich finde meine Position im Sattel, um das Hinterrad zu entlasten, finde meinen Rhythmus für den rauen Belag, greife den Lenker nicht zu fest, federe in den Armbeugen und treibe mein Rad über die Kopfsteine.


 Alte B 105


Der Himmel ist grau. Der Wind treibt Regenschauer über das Land. Das Land ist dünn besiedelt. Unter schwierigen Bedingungen konnte ich schon immer gut Radfahren. Es hat irgendwie etwas Urgewaltiges, etwas Existenzielles. Und nichts kann meine Stimmung besser ausdrücken als die Liedzeilen von Silbermond:

Und es dauert nicht lang,
bis die Gedanken erträumt sind,

Und die Welt steht still, hier im Hinterwald,
und das Herz schlägt ruhig und alt,
….
Erinnerungen holen mich ein,
schön wieder hier zu sein.


Trotz des düsteren Wetters empfängt mich Greifswald freundlich. Die rund 11.000 Studenten der 1456 gegründeten Universität bringen definitiv Farbe in die 55.000 Einwohner Stadt. Ich könnte bleiben, mir einen netten Abend machen. Aber es zieht mich weiter. Fahrerisch bin ich im Flow. Ich will nach Osten, noch 72 Kilometer bis zur polnischen Grenze. Die Spannung vor dem Unbekannten treibt mich voran.


In Wolgast finde ich eine Unterkunft mit Blick auf den Peenestrom. Das Haus ist ansprechend und die Betreiber sind wirklich nett, weltoffen und interessiert. Umso mehr verwundert mich die fast schon warnende Haltung, man müsse als Deutscher in Polen auf der Hut sein und sich auf offene Ablehnung einstellen. Ich bin mir nicht sicher, wie oft die Dame wohl selber in Polen war und versuche die Sache für mich in die Kategorie „Achtung – Reisen gefährdet ihre Vorurteile“ einzuordnen. Beim Kartenstudium für den nächsten Tag, lässt mich das Gesagte dennoch nicht ganz in Ruhe. So kurz vor der Grenze kennen sich die Leute doch bestimmt aus.


Zonenrandgebiet, dieser Begriff aus der Kindheit kommt mir unweigerlich nach den ersten Kilometern auf der Insel Usedom in den Sinn. Ich beobachte ein deutliches Gefälle an Prosperität zum Festland, was auch für die Qualität des Tourismus gilt. Das Gefälle schlägt auch voll auf die Radinfrastruktur durch. Vieles macht den Eindruck von gewollt und nicht gekonnt. Radwege sind desolat oder mit Steinen gepflastert, die unsinnige Längsrillen ausbilden. Mit meinen 28 mm Reifen schlingert die ganze Fuhre derart, dass diese Wege nicht wirklich befahrbar sind. Übergänge weisen bis zu fünf Zentimeter hohe Kanten auf. Auf den Straßen herrscht sehr viel Verkehr und mit den Autofahrern ist nicht gut Kirschen essen.


Ich bin den vierten Tag unterwegs und die Etappen sind mit 162/118/162 Kilometern bisher sehr gut gelaufen. Mir scheint, ich muss mich nun neu ausrichten. Die Radwege sind wirklich eine Katastrophe. Und Terra incognita liegt ja erst noch vor mir. Unweigerlich kommen mir Gedanken, die mich hochrechnen lassen, dass unter derartigen Umständen auch 111 Kilometer am Tag durchaus ambitioniert sein können.
Auch Ahlbeck erkenne ich kaum wieder. Die Promenade ist derart mit Menschen vollgestopft, dass ich sogar an der Seebrücke vorbeifahre, obwohl ich mir gerade diese noch einmal anschauen will. Erst im Zweiten Anlauf gelingt es mir. Seinerzeit habe ich an der kuriosesten Baugrunduntersuchung meines (bisherigen) Berufslebenes mitgewirkt, bei der ein Tretboot eine nicht unwesentliche Rolle spielte…


Einen letzten Kaffee vor dem Grenzübertritt möchte ich mir noch gönnen. Auf der Promenade herrscht mir jedoch zu viel Trubel. Nach einigem hin und her kurven, lande ich binnenwärts im Café Blunck, gegründet 1898. Nicht nobel aber ehrlich.


Terra incognita weicht nun mit jedem Kilometer den eigenen Erfahrungen der Tour. ‚Erfahrungen‘ ist überhaupt ein sehr passender Begriff für Radreiseerlebnisse. Der Grenzübertritt selbst ist, mangels Kontrollen, völlig unspektakulär. Wir sind ja alle Europäer. Spektakulär sind jedoch meine ersten Eindrücke in Swinemünde. Um ehrlich zu sein, bin ich einigermaßen geschockt. Dafür, dass Swinemünde regelmäßig von Kaiser Wilhelm II besucht wurde, ist es heutzutage alles andere als mondän. Verkaufsstände, Billigbuden und Menschenmassen finde ich absolut schrecklich. Ich tausche einige Euro in Zloty. Soviel Europäer, mit Euro-Währung, wollen sie hier ja doch nicht sein. Ich sehe zu, meine Fahrt gen Osten fortzusetzen. Größere Ortschaften sind auf der Straßenkarte zunächst nicht verzeichnet. Und es gibt auch keine. Die Straßen bleiben marode. Die kleineren Orte sind durch einfachen aber massenhaften Tourismus geprägt. Ein Highlight ist das heute nicht und ich frage mich ernsthaft, ob es im weiteren Verlauf besser oder schlimmer werden wird. Allerdings muss ich wirklich eine Lanze für die polnischen Autofahrer brechen. Ausnahmslos verhalten sie sich äußerst rücksichtsvoll und überholen erst dann, wenn sie einen ausreichenden seitlichen Abstand gewährleisten können. Das hat sich auf dem Weg nach Osten also schon mal gebessert.


In dem Kurort Rewal finde ich dann tatsächlich ein einigermaßen lauschiges Plätzchen und plane den Rest des Tages. Trzebiatow (Treptow a.d. Rega) scheint mir ein geeignetes Tagesziel zu sein. Das Städtchen liegt mehr als zehn Kilometer von der Küste entfernt und so hoffe ich dem nervigen Rummel entgehen zu können. Die Rechnung geht auf und ich bin froh nach 127 Kilometern in der 10.000 Einwohnerstadt anzukommen und gefühlt zum ersten Mal auf nicht billig-touristisch getriebenes Alltagsleben zu stoßen. Zusammen mit dem historischen Stadtkern versöhnt mich das auf der Stelle. Zeitweise gehörte die Stadt der Hanse an und 1534 wurde hier durch den Landtag zu Treptow auf Veranlassung pommerischer Herzöge die Einführung der lutherischen Lehre beschlossen.


Trzebiatow


Ein breites Spektrum bietet sich mir bei der Fortsetzung des Weges. Vor allem was die Wege selber angeht. Von Radwegen mit erstklassiger Oberfläche über Betonspurplatten (die gelochte Ausführung) bis hin zu Schotterwegen ist wirklich alles dabei. Ich fahre mein Material nicht bewusst auf Verschleiß, aber es wird schon artgerecht belastet. Auch bei schlechten Wegen strebe ich ein zügiges Vorankommen an. Das geringe Gepäckgewicht ist natürlich ein Riesenvorteil. Dennoch müssen gerade die Laufräder wirklich robust sein, um die Belastung wegstecken zu können. Es ist das erste Mal, dass ich anstatt mit 36 -, nur mit 32 Speichen Laufrädern auf Tour bin. Sie schlagen sich bestens. Ich frage mich, was noch alles an Wegen vor mir liegt.


Betonspurrplatten


Das Erleben des Landes gestaltet sich ebenfalls vielseitiger als am Vortag. Scheinbar habe ich den Bereich monostrukturierter Tourismuswirtschaft verlassen und bekomme viel mehr vom Alltagsleben mit. Und deswegen bin ich ja hier unterwegs. In den ländlichen Bereichen schätze ich die kleinen Krämerläden, welche die Versorgung sicherstellen.


Krämerladen


Die Hafen- und Fischereistadt Kolobrzeg (Kolberg) ist mit 46.000 Einwohnern bisher die größte Stadt und sie gefällt mir besonders gut. Die Radinfrastruktur ist brauchbar und Fischerei- und Yachthafen besitzen eine Atmosphäre, die ich sehr mag. Beim Umfalten der Straßenkarte fragt mich ein Fischer, ob ich Hilfe benötige. Es ergibt sich ein angenehmes und auf beiden Seiten interessiertes Gespräch. Mir wird bewusst, dass es das erste richtige Gespräch, seit dem Grenzübertritt ist. Das liegt weniger an sprachlichen Barrieren, als daran, irgendwie mit den Leuten nicht richtig warm zu werden. Abweisung oder Unfreundlichkeit widerfährt mir allerdings zu keinem Zeitpunkt. Das muss ich ausdrücklich sagen.


Fischereihafen Kolberg


Nach 152 Kilometern lande ich in Ustka (Stolpmünde), ein Seebad. Ausgerechnet! Aber die Stadt lebt nicht nur vom Tourismus, sondern auch vom Seehandel sowie von der Fischerei.  Somit verteilt sich das Tätigkeitsspektrum der etwa 16.000 Einwohner und sorgt für ein gemischtes Erscheinungsbild. Als Hafen der achtzehn Kilometer landeinwärts gelegenen Stadt Stolp, erlebte der Hafen seine Blüte zur Hansezeit. Es gab direkte Handelsbeziehungen bis in die Niederlande und nach England. Als Danzig die Vormachtstellung im Ostseehandel ausbaute, ging es bergab.


Das Hotel, welches sich mir anbietet, scheint im Ursprung eine sozialistische Ferieneinrichtung gewesen zu sein. Während das Interieur so alt ist, dass es schon wieder Retro ist, haben einige Damen des Personals die letzten dreißig Jahre offenbar überstanden ohne zu altern. So sind sie gekleidet und so ist ihr Auftreten. Und genau so serviceorientiert sind sie. Im Sozialismus gibt es keine Könige, und somit auch keine Kunden. Wahrscheinlich bin ich hier ein ‚Übernachtungsfall‘. Und Fahrräder sind Fahrräder. Und die übernachten vor der Tür im Fahrradständer. Ende der Diskussion! – Ja nee, is klar. Ich schecke erst ein und dann die Lage. Das Gebäude ist so groß, dass es einen zweiten Eingang geben muss, denke ich mir. Und über den gelangt mein Rad dann auch in die dritte Etage und schläft natürlich bei mir auf dem Zimmer.


Später prasselt Regen an die Fensterscheibe. Ein schwerer Wolkenbruch geht nieder. Dennoch nehme ich das Ganze nur gedämpft, wie in Watte gepackt, wahr. Ich schlafe schon fast und bin mir nicht einmal sicher, ob ich das vielleicht nur träume. Es ist auch egal. Ich kuschel mich nach diesem gelungenen Tag noch tiefer in die Bettdecke und dämmere endgültig weg.


Ganz und gar nicht egal ist es mir, als ich am Morgen von schwerem Regen, der an die Fensterscheibe trommelt, geweckt werde. Es reicht ein Auge zu öffnen, um den bedrohlich herbstlichen Himmel wahrzunehmen. Na toll!


Also erst einmal frühstücken. Der Frühstückssaal und das Buffet beseitigen jegliche Zweifel über die sozialistische Vorgeschichte des Hauses. Beim Anblick des Personals wird mir klar, dass am Abend die Freundlichen Dienst hatten. Hoffentlich hat niemand davon Wind bekommen, dass ich heimlich mein Rad mit auf das Zimmer genommen habe, geht es mit durch den Kopf. Sonst bekäme ich wahrscheinlich vor allen Leuten eine polnische pädagogische Belehrung und würde vom Frühstück ausgeschlossen. Ich versuche mich so unauffällig wie möglich zu verhalten und behalte die Aufpasserinnen verstohlen aus dem Augenwinkel im Blick.


Nichts passiert. Zum Glück! Das Frühstück ist handfest und gut für hungrige Radler. Obwohl ich gut zulange, beschleicht mich das Gefühl, von allen Übernachtungsfällen am wenigsten zu verputzen. Was durch die figürlichen Umrisse mehr als bestätigt wird. Hier ist nix mit Arbeitern und Bauern. Hier regiert der postsozialistische Wohlstand.
Beim Start regnet es noch immer heftig. Ich kurbel noch durch den Ort und am Hafen entlang, gönne mir einen weiteren Kaffee (entspannt, ohne Aufpasserinnen) und dann geht es unweigerlich los. Unterwegs nass zu werden ist eine Sache, im Regen zu starten eine andere…


Meine geplante Route führt quer durchs Land in Richtung Danzig. Aufgrund der gestrigen Erfahrung mit den Straßen bin ich sehr skeptisch, denn es liegen ausschließlich kleinere Landstraßen auf der Strecke. Allerdings werde ich auf das Angenehmste überrascht. Im Großen und Ganzen rollt es recht gut und auf den üblen Abschnitten herrscht so wenig Verkehr, dass ich mühelos die Linie der geringsten Erschütterungen fahren kann.

Landstraße in Polen


Ich bin sehr froh hier mit meinem Pure Bros unterwegs zu sein, das souverän alle Straßenverhältnisse meistert.  Mein Randonneur wäre aufgrund der ausgesprochen sportlichen Auslegung fehl am Platz. Zwei bis drei Zentimeter mehr Radstand, erreicht durch einen längeren Hinterbau und einen flacheren Gabelwinkel, wirken eben doch wahre Wunder. Auf dem Pure Bros zu sitzen entspannt und ermöglicht dennoch sportliches Vorankommen.


Radwanderweg


Das Touren gefällt mir hier abseits der küstentouristischen Pfade bestens. Felder und Wälder wechseln sich ab. Die Topographie ist leicht wellig. Ich komme durch aufgeräumte Dörfer und schätze die kleinen Läden (Sklep) als Versorgungsstationen.


Sklep


Aufgrund des mehr oder weniger ständigen Regens beschließe ich in Lebork (Lauenburg i Pommern) nach 85 Kilometern ein Quartier zu beziehen. Mit Stand gestern Abend liege ich rund 1 ¾ Tage vor meinem Zeitplan und gönne mir somit eine Halbetappe. Es bleibt mir ein Plus von 1 ¼ Tagen. Ob das viel oder wenig ist, wird von der Beschaffenheit der Straßen vor mir abhängen.


Neben Radfahren ist Schlafen meine Hauptaktivität. Zu mindestens zeitlich gesehen. Ich genieße jede Nacht acht bis neun Stunden erholsamsten Schlaf. Das schaffe ich leider im Alltag kaum. Jedenfalls bin ich an diesem Morgen absolut ausgeschlafen und träume nicht mehr, als beim Frühstück eine mehr oder weniger junge Frau im seidenen Nachthemd und Morgenmantel mit einem Kaffee am Tisch gegenüber Platz nimmt. Ich überdenke kurz wo ich hier gelandet bin und komme zu dem sicheren Schluss, dass es ein seriöses Haus sein muss. Bei meiner gestrigen Ankunft war es weder stockdunkel, noch kam mir irgendetwas auffällig vor. Außerdem steht mein Rad sicher verwahrt in einem Konferenzraum. Es war doch ein Konferenzraum oder? Nun, ich bin Gast in diesem Land und muss mich wohl mit den Gepflogenheit abfinden. Vielleicht ist die Dame ja irgendwie auf Montage. Viele ihrer Landsleute arbeiten ja auswärts.


Nach dem Frühstück hole ich mein Rad aus dem Konferenzraum (tatsächlich!), rüste auf und ab geht es in Richtung Danzig. Die Route führt durch traumhafte Landschaften. Die Topographie ist recht bewegt. In den Höhen geht es durch Wälder mit kleinen Seen, während in den unteren Lagen Agrarlandschaften und Dörfer zu finden sind. Mir gefällt das alles bestens. Die Straßen sind super und bis auf ein paar Regentropfen bleibt es trocken.

Rad am See


Mich so schnell Danzig zu nähern, bedaure ich fast. Großstädte mit dem Rad zu durchfahren ist meistens kein Spaß. Im Großraum Danzig leben immerhin 1,2 Millionen Menschen. Die Peripherie von Danzig begrüßt mich dann mit dem angenehmen Hinweis, Autofahrer mögen bitte einen Meter Abstand zu Radfahrern halten. Was sie auch ausnahmslos tun. Leider habe ich meinen Hut nicht dabei.


Danke  - auch wenn ich nicht den richtigen Hut dabei hatte.   :)


Danzig Downtown überrascht mit einer ausgezeichneten fahrradfreundlichen Verkehrsführung. Völlig stressfrei gelange ich in die Altstadt. Und auch später wieder heraus.


Radwege in Danzig


Die Altstadt ist absolut außerordentlich. Zum richtigen Genießen ist es mir jedoch deutlich zu überlaufen. Ich cruise etwas herum und finde abseits ein ruhiges Café.


Danzig Altstadt


Die Fahrfreude des Vormittags lässt sich heute nicht mehr toppen. Daher versuche ich es auch gar nicht erst. Mein Augenmerk gilt nun einer möglichst guten Ausgangsbasis für den morgigen Tag. Die russische Grenze ist nicht mehr weit entfernt. Meine Spannung steigt. Anstatt also im Weichsel Delta im Zickzack um irgendwelche Entwässerungsgräben zu kurven, donner ich ‚Kette rechts‘ im Lenkeruntergriff auf der Nationalstraße 7 entlang. 

Die Geschwindigkeit pendelt sich zwischen 27 und 29 km/h ein. Das ist auch gut so, denn im Grunde gibt es dort nichts (außer Entwässerungsgräben). Selbst dem Garmin Navigator wird langweilig. Anstatt vorausliegende Ortschaften, meldet er nur noch teilnahmslos „Fährt südostwärts“. Nach 141 Kilometern lande ich in Elblag (Elbing).

Elblag, mein Tagesziel, empfängt mich mit einer sehr ansprechenden Innenstadt nach historischem Vorbild. Wie die meisten Städte meiner bisherigen Reise hat auch Elblag eine aufregende ältere und bewegte jüngere Geschichte. An Handelsrouten zwischen Skandinavien und dem Mittelmeerraum gelegen, wird eine Vorläufersiedlung bereits 890 von einem angelsächsischen Reisenden erwähnt.

Elblag


Gegenwärtig ist die Wirtschaft der Stadt breit aufgestellt. Turbinen, Elektromotoren, Bier, Schiffswerft, Transportmittel, Milch, Fleisch, Leder, Textil und Möbel gehören zur Erzeugnispalette der 120.000 Einwohnerstadt. Für den Schiffsverkehr wurde 2006 ein Hafen mit einer Umschlagskapazität von 750.00 Tonnen in Betrieb genommen. Da Elblag keinen freien Zugang zur Ostsee hat, führt der Weg über das frische Haff durch russische Hoheitsgewässer. Und die wurden unfreundlicher Weise im gleichen Jahr von Herrn Wladimir Wladimirowitsch Putin für den internationalen Verkehr gesperrt.


Niemand versperrt mir den Gang in ein gutes Restaurant. Ich sitze seit sieben Tagen im Sattel, habe 947 Kilometer zurückgelegt und befinde mich etwa 60 Kilometer vor der russischen Grenze.  Ich bin sehr zufrieden mit dem bisherigen Tourverlauf und mit mir. Dies ist Anlass genug, dies zu zelebrieren. Wer weiß, was mich morgen erwartet. Später beim Einschlafen verspüre ich eine Mischung von Neugier, Freude und Spannung. Wie wird es wohl in Russland sein?


Für mich führt der Weg nach Russland zunächst an einem hügeligen und waldreichen Nationalpark vorbei. Zur linken Hand liegt das Frische Haff. Ich treffe so viele Radreisende wie lange nicht mehr. Die meisten stammen aus Deutschland und sind bereits an ihren Ortlieb Packtaschen, quasi das Radler D-Schild, als solche zu erkennen. Das liegt sicherlich daran, dass sich individuelle und markierte Routen sich in Richtung Grenzübergang kanalisieren.



Radreisende kurz vor Kaliningrad, Russland


In Frombork (Frauenburg) investiere ich meine restlichen Zloty Münzen in illy Kaffee und komme mit einem Berliner Radreisepaar ins Gespräch. In der Sonne sitzend plaudern wir entspannt über unsere aktuellen Touren. Eine gewisse unterschwellige Anspannung ist angesichts des bevorstehenden Grenzübertrittes aber nicht zu leugnen.


Auf der anderen Straßenseite erhebt sich der imposante Frauenberger Dom. Umgeben ist er von Wohnhäusern und einer Wehranlage. Entstanden ist das Ganze im 14. bzw. 15 Jahrhundert. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts entwickelte der Domherr Nikolaus Kopernikus hier seine Theorie des Heliozentrischen Weltbildes. Am Fuße des Domberges steht ein Wasserturm, der 1571 einen Schaufelrad-Antrieb erhielt, der den gesamten Burgberg mit Wasser versorgte. In ganz Europa gab es zu dieser Zeit nur eine weitere technische Anlage dieser Art.


Verblüfft über die historische Bedeutung dieses Örtchens im vermeintlich hintersten Winkel von Europa, setze ich meinen Weg in Richtung russische Gegenwart fort. Meine erste Erkenntnis im Kontakt mit Russland ist ein Berg von Rubel, den ich in Braniewo für meine restlichen Zloty Scheine in die Hand gedrückt bekomme. Die zweite Erkenntnis besteht darin, dass mein Garmin Navigator offenbar keine russischen Straßenkarten kennt. Die gespeicherte Route verläuft auf weißem Untergrund. Das beunruhigt mich aber nicht weiter. Es löst eher ein Schmunzeln aus. Ich habe zwar vor der Abreise geprüft, ob der Navigator alle Streckenabschnitte geladen hat, aber in der Gesamtübersicht war das Fehlen der Kartenbasis der russischen Exklave nicht erkennbar. Egal, ich bin ja auch in der Old School Navigation zu Hause. Und in diesem Falle kann ich ja sogar auf eine Semi Hybrid Navigation setzen. Immerhin meckert Herr Garmin, sobald eine Streckenabweichung vorliegt.

Garmin an der Grenze zu Kaliningrad


Weltenwechsel – ist mein spontaner Gedanke, als ich die ersten Grenzanlagen sichte. Erster Schlagbaum. Der Soldat in Kampfmontur macht einen martialen Eindruck, ist aber letztendlich der Freundlichste in der gesamten Prozedur. Aufgrund meiner letztjährigen Erfahrungen an der griechisch-türkischen Grenze frage ich lieber im Vorfeld, ob eventuell ein Erinnerungsfoto erlaubt sei. Ist es natürlich nicht.

Schlagbäume später, nachdem ich einfach an den wartenden Pkw vorbei gefahren bin, erreiche ich die eigentliche Abfertigung. Wie Vergessene des kalten Krieges verrichten hier bedrohlich auftretende, unterschiedlich Uniformierte akribisch und mit großem Ernst ihre Aufgabe. Von den Verwandten keine Spur.

Be confident and be polite – Unweigerlich schiebt sich dieser Hinweis von Oleg Alferov ins Bewusstsein. Olegs zehnseitige ‘Information on traveling through the Kaliningrad region by biccle’ ist eine sehr gute und hilfreiche Quelle. Der Kontakt zu Oleg ergab sich in der Vorbereitungsrecherche über den König Bicycle Club. Der Kaliningrader Radverein ist total aktiv und führt auch 300 km und 400 km Brevets durch.

Nach dem Passport procedure muss ich noch zu Ludmilla, wie ich sie taufe. Ludmilla erfüllt alle Klischees der bösen Gouvernante alter tschechischer Märchenfilme. Und wahrscheinlich war sie auch mal Kaliningrader Meisterin im Judo. Mit ihrem , an einen selfie stick erinnernden, Spiegelstab in heavy metal Ausführung inspiziert sie jedes Fahrzeug von innen und außen. Gründlich! Ich frage mich, was sie wohl mit mir vor hat. Ja, war ja klar. OPEN! So ihr Befehl. Ich muss eine Satteltasche öffnen und auspacken. Ausgerechnet die rechte, in der mein technisches Equipment untergebracht ist. Böse Erinnerungen an meine Erfahrung auf dem Istanbuler Flughafen lassen mich nun sehr vorsichtig werden. OPEN!!! Treibt sie mich fordernd an. 

Mich nicht aus der Ruhe bringend lassend, öffne ich die Tasche und fördere Stück für Stück Gegenstände zu Tage. Jeden erläutere ich in Englisch im ‚Die Sendung mit der Maus‘ Stil. Ich glaube, dass sie der Kram überhaupt nicht interessiert. Vielmehr hat sie mich im Visier und will möglicherweise meine Verunsicherung testen. Nach dem vierten Teil darf ich alles wieder einpacken und meine Fahrt fortsetzen. Weitere Schlagbäume später bin ich drin.



Welcome


Da sich die lieben Verwandten noch immer nicht blicken lassen, setze ich meinen Kurs auf Kaliningrad ab. Und wie ist sie nun die ‚andere Welt‘?


In der Wahrnehmungsreihenfolge formt sich folgendes Bild: Die Straßen sind viel besser als gedacht und größtenteils ok. Der technische Zustand vieler Fahrzeuge und die Fahrweise haben dagegen deutlich Luft nach oben. Da meine erste Straße über einen derart breiten Seitenstreifen verfügt, dass Militärkolonnen im Begegnungsverkehr fahren können, ist das jedoch kein Problem. Die größte Überraschung sind die Menschen. Die Begegnungen sind freundlich und weltoffen. Ich werde sofort warm mit der russischen Exklave Kaliningrad. In den Jahren des Tourens habe ich für mich einen Lächel-Index aufgestellt. Die Kategorien unterscheiden nach erstens - Lächeln die Leute von sich aus und zweitens – Wie wird ein Lächeln erwidert? Während Kaliningrad für mich in der ersten Kategorie im oberen Mittelfeld rangiert, liegt das Ranking in der zweiten Kategorie deutlich höher.


Irgendwie gibt es eben doch nur die eine Welt, mit uns Menschen.


Die Stadt Kaliningrad (ehem. Königsberg) zählt etwa 430.000 weitestgehend russische Einwohner und ist Verkehrsknotenpunkt sowie Wirtschafts- und Kulturzentrum. Universitäten (hier lehrte Immanuel Kant!), Hochschulen, Forschungseinrichtungen, Theater und Museen sind hier beheimatet. Die Geschichte der Stadt reicht weiter zurück als die anderer Städte im Baltischen Raum. Bereits 3000 v. Chr. gilt das Gebiet der heutigen Stadt als besiedelt. Der Deutsche Orden begann 1231 mit der Eroberung des von den Prußen bewohnten Gebietes. In der Folge gründeten Lübecker Kaufleute einen Handelsstützpunkt, womit die fast 700 jährige Geschichte unter dem Namen Königsberg begann. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das heutige Kaliningrader Gebiet im Potsdamer Abkommen unter sowjetische Verwaltung gestellt. Aufgrund der strategischen Bedeutung eines eisfreien Hafens an der Ostsee kam es jedoch zur Annektierung.


Ab den 1950er Jahren wurde Kaliningrad als militärisches Sperrgebiet abgeschottet. Auch heute ist Kaliningrad ein hochgerüsteter Standort, der NATO Militärplanern ein Dorn im Auge ist. Die Gemengelage von riskanten Flugmanövern russischer Jets (mit ausgeschalteten Funksendern), Putins Außenpolitik, Befürchtungen der baltischen Staaten, erhöhter NATO Präsenz im Baltikum und den Gerüchten über die Stationierung russischer nuklearfähiger ‚Iskander‘ Kurzstreckenraketen verdeutlicht die Fragilität des herrschenden Gleichgewichtes.


Mit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten wurde Kaliningrad seit 1992 zum Zentrum von Russen, die in diesen Staaten zu Minderheiten wurden und sich in der Folge in Kaliningrad ansiedelten.


Die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone führte 1991 nicht zum erhofften Erfolg. Korruption, Wirtschaftskriminalität und die Rubelkrise 1998 dämpften die Erwartungen. Unbeirrt hält man an der Idee fest, ein ‘russisches Hongkong‘ als Tor zum Westen zu schaffen. Mit dieser Ausrichtung treffen die mit der Ukraine-Krise begründeten EU-Sanktionen Kaliningrad besonders hart. Dennoch zählte die Region Kaliningrad im letzten Jahr zu den zehn am schnellsten wachsenden russischen Regionen. Die Industrieproduktion legte um 8,7 Prozent zu.


Ich erreiche die Großstadt, nicht geplant - aber glücklich gefügt, am frühen Samstag Nachmittag. Dadurch gelange ich äußerst entspannt in das Herz der Stadt. Zur werktäglichen Hauptverkehrszeit dürfte es echten Ellenbogeneinsatz erfordern, um sich als Radfahrer auf den mehrspurigen Verkehrsachsen zu behaupten. Teilweise gibt es auch mehr oder weniger brauchbare Radwege. Über im Grunde typische Großstadtstraßen (mit überdurchschnittlich viel ‚Platte‘ (-nbauten) und überirdischer Verkabelung) gelange ich das Gebiet der alten Stadtmitte, von der wohl nur der Königsberger Dom erhalten (wiederaufgebaut) wurde.



Kaliningrad, auf dem Weg ins Zentrum


Mein Quartier erweist sich ebenfalls als Glücksgriff. Schnell duschen, stadtfein ankleiden und los geht es. Fußläufig erreiche ich die Dominsel mit einem Volksfest, das moderne Stadtzentrum und Fischdorf. Auf dem Gelände des ehemaligen Fischmarktes am Pregel entstehen im historischen Stil in architektonischer Anlehnung an alte Hansestädte ein Viertel für Gastronomie, Hotels und Business. Ein Drittel des geplanten Umfanges ist bereits realisiert. Im krassen Gegensatz schieben sich im Hintergrund Plattenbauten ins Bild.


Am Pregel flanieren die Kaliningrader. Und zum Flanieren kleidet man sich fein. Ich genieße das Bild und mitten drin zu sein. Welch angenehmer Kontrast zu der ‚Schmerbauch-Hemd über Dreiviertelhose, Outdoorsandalen mit Socken tragenden Klientel‘ der deutschen und polnischen Badeorte. Vorsichtig versuche ich mit Leuten ins Gespräch zu kommen, was viel leichter fällt, als vermutet. Was für ein Tag. Ich fühle mich sehr wohl im Erfahren des Unterwegssein. Wahrscheinlich könnte ich mich hier gut eine ganze Woche tummeln. ‚Richtig reisen‘ und ‚begrenztes Zeitkontingent‘ sind irgendwie konträre Größen.



Fischdorf


Freundliche und entspannte Menschen, Platte im Hintergrund


Somit verzichte ich auf ein Besichtigungsprogramm und lasse mich treiben. Ich finde es eh spannender zu versuchen mitzubekommen, wie das Leben vor Ort schwingt. So durchstöbere ich gerne Zeitschriftenregale, um zu sehen welche Themen die Leute bewegen. Die Entdeckung des Tages ist das Cover eines russischen Lifestyle Magazins, welches eine junge schöne Frau mit einem hippen Typen zeigt. Er sitzt lässig auf einem stylischen Fixie (Starrgangrad), welches noch schöner ist….smile.

Die Stadt erwacht. Für einen Sonntag ist es früh am Morgen. Ich nutze die verkehrsarme Zeit, um (nicht ohne Bedauern) die Stadt zu verlassen und schaue Kaliningrad beim Erwachen zu. Die Stadt tickt nicht viel anders als westliche Großstädte. Spätheimkehrer suchen ihren Haustürschlüssel, Hundehalter führen ihre Vierbeiner aus, sportlich modern gekleidete Menschen joggen in Parkanlagen und alte Frauen nehmen den beschwerlichen Weg zur Kirche auf sich. 

Trotz der frühen Stunde und des Schauerwetters begegnen mir auffallend viele Radsportler. Es ist nicht einer dabei, der nicht freundlich grüßt. Das ist schön und tut gut. Schließlich teilen wir eine Leidenschaft. Ebenso wie die Radsportler benutze ich die Radwege nicht. Sie sind zum Teil wirklich desolat. Aufgrund der äußerst geringen Verkehrsdichte stellt die Straßenbenutzung kein Problem dar. Froh über das reibungsfreie Vorankommen erreiche ich die Peripherie der Großstadt und es kommt, wie es kommen muss. Die Landstraße geht nahtlos in eine Autobahn über. Noch bevor ich mit meinem Navigator übereinkomme, dass es keine sinnvolle Alternative gibt, entdecke ich einen mir entgegen kommenden Rennradler auf der Autobahn. Ich wechsel schnell die Seite und fange ihn ab.



Kaliningrader Autobahnbekanntschaft


Radfahrer kennen keine Sprachbarrieren und schnell ist mein Problem erläutert. Gelassen deutet er mir an, ich solle einfach bis zur nächsten Ausfahrt fahren. Wir fachsimpeln noch ein wenig, schießen ein Selfie und wünschen uns einen guten Weg. Du hast ja eh ein Faible für das Radeln auf Autobahnen, sage ich zu mir selbst und denke schmunzelnd an Tirana (Albanien, Transcontinental Race 2015).  Nach der Autobahnausfahrt findet sich die richtige Landstraßenachse und es geht weiter nordwärts. Bisher bin ich ja im Wesentlichen nach Osten gefahren. Noch fünfzehn Kilometer bis Zelenogradsk.


Zelenogradsk 15 km  (steht da ja auch...haha)


Zelenogradsk (Cranz) war zur Kaiserzeit einer der bedeutendsten Badeorte der ostpreußischen Küste. Den Glanz konnte der Ort nicht erhalten. Die gegenwärtige Bedeutung besteht hauptsächlich in dem Wochenendtourismus der Kaliningrader. Reiche Moskauer investieren in Privathäuser und Tourismuseinrichtungen. Aktuell liegen die meisten Baustellen jedoch brach. Ich finde ein kleines aber feines Café, welches gerade öffnet. Darüber bin ich echt froh, denn es ist noch Vormittag. Für die fast 100 Kilometer lange kurische Nehrung mit sehr wenigen Orten, möchte ich mich vorab stärken.

Elena serviert mir den garantiert besten Kuchen der ganzen Tour. An den Wochenenden hilft sie ihrer Mutter im Café. Sie fragt, ob ich aus Deutschland sei. Und zwar auf Deutsch. Sie merkt mir meine Überraschung an und fragt, ob sie sich zu mir setzen darf. Natürlich darf sie. Elena studiert Ökonomie und belegt Deutschkurse. Sie wolle sich nur schnell noch einen Kaffee holen. Mit einem frischen Kaffee und dem Intro zu ‚Wind of Change‘ setzt sie sich grinsend zu mir. Irgendwie ist der Song ja die Hymne der Wende und natürlich hat sie die Scorpions CD ganz bewusst eingelegt. Elena ist wissbegierig und stellt viele Fragen über das Leben in Deutschland und Europa. Und ich bin natürlich neugierig, was junge Menschen in Kaliningrad bewegt.


Es ergibt sich ein vertieftes Gespräch und wir kommen ins Philosophieren. Erst nach einer oder eineinhalb Stunden breche ich allmählich auf. Zum Glück ist es draußen kühl und windig. Nach rund hundert Metern auf dem Rad realisiere ich, dass Helm und Kappe noch im Café liegen.


Elenas Kuchen


Kaliningrad ist ein Wendepunkt meiner Tour. Nicht nur die Richtung ändert sich (von Ost auf Nord), sondern auch die (innere) Ausrichtung. Fuhr ich bisher durch ländliche Gebiete, so waren diese dennoch relativ dicht besiedelt. Nun zeigt mir die Karte längere Abschnitte mit eher dünner Besiedelung. Den Auftakt macht die Kurische Nehrung mit rund 100 Kilometern wildem Sandstrand. Ein steifer Westwind lässt die Brandung auf den Strand rollen. Das gewaltige Rauschen begleitet mich während der gesamten Passage. Eine wunderbare Atmosphäre. Viel mehr als Meer, Haff, Wald und Strand gibt es aber auch nicht.


Ich mag das entlegene Radeln durchaus. Ich kann es mir durchaus kultivieren. Dann genieße ich die kontemplative Seite des Radfahrens besonders. Oft ist es dann fahrerisch nicht besonders anspruchsvoll, sodass ich quasi auf Autopilot schalte und mir eine zusätzliche Bewusstseinsebene öffne. Auf dieser kann ich dann Gedanken treiben lassen oder ich denke direkt auf irgendwelchen Themen herum. Manchmal poppen aber auch einfach aus dem Unterbewusstsein irgendwelche Gedanken auf. Da ich dabei dennoch flott kurbeln kann, komme ich so nicht nur anregend, sondern auch effektiv über lange, einsame Strecken.


So denke ich beispielsweise noch lange über das Gespräch mit Elena nach. Oder mir kommt plötzlich in Erinnerung, dass ich (soweit ich die kyrillischen Buchstaben richtig gedeutet habe) in Kaliningrad ein Schild ‚Moskau 1.2oo km‘ gesehen. Das muss ich abends unbedingt recherchieren. Selbst auf schlechten Straßen wären das höchstens zwei Wochen…


Etwa auf der Hälfte der Nehrung erreiche ich den Grenzübergang nach Litauen. Die Ausreise ist weniger aufregend als die Einreise, dauert aber dennoch eine halbe Stunde. Insgesamt verliere ich jedoch eineinhalb Stunden. Denn ab hier gilt die osteuropäische Sommerzeit. Ich muss meine Uhr eine Stunde vorstellen. Nida, wenige Kilometer hinter der Grenze ist ein richtig skandinavisch anmutendes Bullerbü Dorf mit vielen bunten Holzhäusern. Im Yachthafen auf der Haffseite gönne ich mir eine kleine Mahlzeit und dann geht es wieder auf die Piste. Genauer gesagt auf den Radweg. Dort rollt es nur ein wenig schlechter als auf der Straße.



Kurische Nehrung


Aber er verläuft abseits der Straße, teilweise direkt am Dünengürtel entlang. Ein paar Schritte die Dünen hinauf und ich kann auf das bewegte Meer schauen. Ein Traum! Nach 147 Kilometern lasse ich den eindrucksvollen Tag in Klaipeda ausklingen.


Neuer Tag, neue Erfahrung. Und die heißt Gegenwind! Ich hatte tatsächlich bisher (auf 1.205 km) günstige Winde. Nun wendet sich das Blatt. Anfangs schützen mich noch Bäume und der Dünengürtel. Ohne es geplant zu haben, bin ich auf einem Teilstück eines Fernradwegs unterwegs.


Europäischer Fernradweg 10


Dieser führt mich von Klaipeda über rund 40 Kilometer fat bis an die Grenze zu Lettland. Mit einer hervorragenden Oberfläche schlängelt sich der Weg fernab von Straßen direkt an der Küste entlang. Ein absolutes Highlight! Immer wieder nutze ich die Chance für einen Moment zu verweilen und auf das Meer zu schauen. Auch deswegen bin ich hier.



Einsamer Traumstrand


Die letzten Kilometer bis zur Grenze nach Lettland sind der Auftakt zu einem einsamen, kurvenbefreiten Abschnitt. Im Klartext heißt das, 60 Kilometer geradeaus, ohne (nennenswerte) Ortschaften. Und das mit Starkwind von vorne links. Zum Glück fahre ich so etwas nicht zum ersten Mal. Ich greife den Lenker tief, mache mich klein und versuche so dem Wind wenig Angriffsfläche zu bieten. Da muss man dann eben für zweieinhalb Stunden mal durch. Zu sehen gibt es nichts mehr Aufregendes. Wald, Heide und Wiesen im Wechsel. Ich stelle den Garmin Navigator so ein, dass ich die nächsten 60 Kilometer in dem Minidisplay komplett überblicken kann und schalte auf Autopilot. Ein Auge für die Straße und eins nach innen gewandt für Gedanken.

Kurz vor Nica, nach etwa dreiviertel der Strecke, realisiere ich, dass die Häuseransammlung groß genug für das Vorhandensein eines Krämerladens sein könnte. In der Tat stoße ich erfreut auf einen Laden. Und auf ein Radlerpaar aus Ulm. Das Hallo ist groß und wir freuen uns nach den einsamen Kilometern über den Austausch. Die beiden sind in meinem Alter und haben das Radreisen erst vor zwei Jahren entdeckt. Damit es leistungsmäßig zusammenpasst, fährt sie ein E-Bike. Sie sind auf Usedom gestartet und wollen nach Ventspils. Größtenteils sind wir dieselbe Route gefahren. In Kaliningrad haben wir (an unterschiedlichen Tagen) sogar im selben Hotel genächtigt. Ich finde es total interessant, wie unterschiedlich unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen dennoch sind.


Aber ich muss ehrlich sagen, dass den beiden mein voller Respekt gilt! Ich finde es total super, wie die beiden ihre Möglichkeit gefunden haben, zusammen unterwegs sein zu können. Wer etwas wirklich will, findet auch einen Weg.
Auf dem weiteren Weg erwischt mich noch ein unheimliches Unwetter. Es gibt keinerlei Unterstellmöglichkeiten. So muss ich dem Starkregen eben trotzen. Westlich von mir sichte ich eine mächtige Windhose. Kritisch behalte ich die Zugrichtung im Auge, kann aber bald aufatmen. Ursprünglich wollte ich noch 50 Kilometer weiter fahren. Angesichts des Wetters lasse ich es nach 105 Kilometern in Liepaja (Liebau) gut sein.


Liepaja ist die Stadt der Winde…. – so die Touristik Broschüre. Und was soll ich sagen? Es stimmt! Und zwar der nördlichen Winde in der Stärke 6 bis 7 Beaufort, verstärkt durch Sturmböen. Das Ganze wird zur Frühstückszeit von schweren Regenfällen begleitet. Angesichts des vor mir liegenden ausgedünnten Küstenabschnittes mit wenigen Ortschaften, entscheide ich mich für einen Pausentag. Nach 10 Tagen im Sattel und 1.310 zurückgelegten Kilometern kann ich das auch gut mal haben.


Liepaja ist seit über 750 Jahren besiedelt und gegenwärtig leben, arbeiten und studieren hier rund 70.000 Menschen. Mit der netten Innenstadt kommt mir die Stadt allerdings sehr viel kleiner vor. Speichergebäude, Holzhäuser und Jugenstilarchitektur prägen das Stadtbild. Mit dem Eisenbahnanschluss von 1869 entwickelte sich Liebau zu einem bedeutendem Industriezentrum. 1899 wurde die erste elektrische Straßenbahn des Baltikums in Betrieb genommen. Der Orts- und Hafenbereich Karosta wurde zu einer großen Flottenbasis ausgebaut. Zwischen 1906 und 1914 gab es direkten Schiffsverkehr nach New York. Mehrere hunderttausend Auswanderer nutzten diesen Hafen, um in ein neues Leben zu reisen.


Ich bin gestern für 35,- Euro im Fontaine Hotel Royal abgestiegen und verlängere meinen Aufenthalt für eine Nacht. Das Haus liegt an der beliebten Hafenpromenade. Zu Sowjetzeiten war dies ein gesperrter Bereich. Nun siedeln sich hier Gastronomie-, Hotelbetriebe, Musik Clubs und Szenetreffs an. Der Kontrast zwischen alter Industrie- und Hafenumgebung sowie aufstrebender Eleganz sorgt für einen ganz eigenen charaktervollen Charme.


Mit Spaziergängen zwischen den Schauern, Caféaufenthalten und Leute gucken, verbringe ich den Vormittag. Für den Nachmittag nehme ich mir den Besuch der hauseigenen Sauna vor. Draußen ist es eh mehr Herbst als Sommer. Alles in allem hätte ich es heute schlechter treffen können. Und mein Rad auch.


Königlich


Viel geradeaus. Treffender lässt sich der Tag einfach nicht beschreiben. Es nieselt den ganzen Tag, viertelstundenweise regnet es auch mal richtig. Das Meer ist an grauen Tagen auch in Lettland grau. Heute bin ich überhaupt nicht erpicht das Meer zu sehen. Wenn ich das Meer sehe, gibt es keine Bäume. Aber die mag ich heute trotz der Monotonie einer Endlosfototapete besonders. Denn sie schützen mich vor dem unangenehmen Nordwestwind. Nach den Informationen der Straßenkarte bin ich gut beraten davon auszugehen, auf den 125 Kilometern nach Ventspils nicht unbedingt auf Versorgungsmöglichkeiten zu stoßen. Essenstechnisch ist das kein Problem. In den Satteltaschen sind ausreichend Kalorien vorhanden. Aber zwischendurch mal ein Käffchen zu trinken, wäre gerade angesichts des Wetters ein Traum.



Viel geradeaus


Einzig dem Örtchen Pavilosta traue ich eine entsprechende Einrichtung zu. Allerdings liegt es drei Kilometer von der Landstraße entfernt. Wenn es ein Flopp ist, sind das sechs Kilometer für die Katz. Dennoch ist die Aussicht auf einen Kaffee und für einen Moment dem Regen zu entkommen, verlockend. Pavilosta liegt direkt am Meer. Somit sind die Chancen vielleicht nicht so schlecht.

Ich weiß nicht, wie viele Kilometer ich darauf herum denke. Vielleicht werde ich durch das einsame Radeln doch etwas komisch. Erst entscheide ich, den Ort anzufahren, wenn es sich bei dieser Stichstraße um eine Asphalt-, und nicht um eine Naturstraße handelt. Dann versuche ich mit mir zu wetten, ob es nun eine Asphalt- oder eine Naturstraße ist. Da ich mit mir keine Einigung über den Wetteinsatz erzielen kann, gebe ich den Gedanken wieder auf.

Die Auflösung besteht dann in einer guten Asphaltstraße und noch besserem illy Kaffee. Die Dinge ordnen sich eben unterwegs.


Coffein Oase



Regen


Den Rest des Tages verbringe ich mit Bäume zählen und der Klassifizierung von Korngrößen festgefahrenen Splits. Desweiteren versuche ich mich in Studien über die Optimierung der Fahrgeschwindigkeit in Abhängigkeit der Welligkeit von Naturstraßen. Dabei schone ich mein Pure Bros nicht. Die ausgewogene Geometrie ist wirklich eine wahre Wonne. Unter diesen Verhältnissen erledigen übrigens die Reifen ihren Job am besten mit 4,5 bis 5,0 bar (glatte Straße 6,0). Da ich keine Lust habe immer abzusteigen und den Abstand der Bodenwellen nachzumessen, verwerfe ich die Studien und entscheide mich für möglichst flottes Vorankommen und lande nach 125 Kilometern in Ventspils.


Korngrößenstudien


Naturstraßen


Ventspils, an der Mündung des Flusses Venta gelegen, blickt auf eine lange Tradition als Hafenstadt zurück. 1253 erstmals schriftlich erwähnt, gehörte die Hafenstadt später zeitweise der Hanse an. Ab 1642 avancierte sie zu einem Zentrum des Schiffsbaus. 44 Kriegs- und 79 Handelsschiffe liefen vom Stapel. Angeblich sollen von hier aus sogar Flotten zur Kolonialisierung von Gambia und Tobago gestartet sein. Es ist schon interessant, wer damals alles ein Stück vom Kuchen abhaben wollte.



Ölkuh


Unter sowjetischer Herrschaft wurde nach dem zweiten Weltkrieg eine Ölpipeline nach Ventspils verlegt. Auch aufgrund der Eisfreiheit wurde Ventspils für Russland zu einem wichtigen Exporthafen für Erdöl und Kohle. Durch die Hafeneinnahmen ist Ventspils eine der wohlhabendsten Städte Lettlands. Kein Wunder, dass man ein Herz für Radfahrer hat und sich die im Tourverlauf beste urbane Radinfrastruktur leistet. Den Tag lasse ich bei einer guten Pizza ausklingen.


Ventspils hat ein Herz für Radfahrer.


Zur Abwechslung geht es mal richtig viel geradeaus… Im Nieselregen! Gab es bisher wenigstens mal Richtungsänderungen von zarten zehn Grad, so scheinen diese nun komplett zu entfallen. Die Spitze ist ein Streckenabschnitt von 83 Kilometern ohne irgendetwas anderes als Bäume und gerader Straße.


Die Fahrbahnen weisen wieder alle möglichen Rauigkeitsklassen auf. Die Verkehrsdichte ist gelinde gesagt sehr dünn. Verblüfft passiere ich zwei Vermesser, die was auch immer vermessen. Etwa auf der Hälfte der Strecke gibt es wieder eine Stichstraße zu einem Küstendorf. Diese besteht jedoch aus einer relativ losen Sandoberfläche. Das möchte ich meiner Kette nicht zumuten. Kurzerhand gibt es einen Pausensnack im Stehen. Wenigstens der Nieselregen hört auf.


83 Kilometer zwischen zwei Ortschaften


Just als ich mich wieder in den Sattel schwingen will, entdecke ich am südlichen Horizont einen bunten Punkt auf mich zukommen. Das kann nur ein Radfahrer sein. Natürlich warte ich. Der bunte Punkt entpuppt sich als Alexandra aus Barcelona. (Übrigens mit Ortlieb Packtaschen…) Wir freuen uns beide über unser Zusammentreffen und die gute Gesellschaft. Wir schmieden eine Allianz für den zweiten Teil der ausgesetzten Strecke und genießen die angenehme und kurzweilige Konversation.


Alexandra


In Kolka trennen sich unsere Wege. Alexandra geht auf Quartiersuche, während ich dem Tag noch etwas Strecke abgewinnen möchte. Ach, das war schon wirklich nett, ein Stück zu zweit unterwegs zu sein, sinniere ich vor mich hin, gebe meinen Gedanken Raum und lasse sie fliegen. Und irgendwie kommt mir der Himmel plötzlich noch etwas grauer vor, als er eh schon ist. Vielleicht besteht die Gefahr der kontemplativen Langstrecken darin, dass sich Grenzen und Größen verschieben können, ohne dass man es richtig mitbekommt.


Das nächste Zweirad, welches aus dem Augenwinkel in mein Blickfeld gelangt, löst jedenfalls genau so eine Frage aus. Habe ich das richtig mitbekommen? Das kann doch gar nicht sein! – Ein Liegetandem, bei dem die Radler Rücken an Rücken sitzen. Wie abgefahren ist das denn? Bei genauerem Hinsehen stelle ich fest, dass jeder autark ein Rad antreibt, ohne in der Kraftübertrag mit seinem Mitfahrer gekoppelt zu sein. (Das Lenken übernimmt aber nur einer…haha.) Natürlich kommen wir ins Schnacken. Das niederländische Paar setzt dieses kuriose Gefährt seit vier Jahren für Touren ein und ist total begeistert. Es ist ihre ideale und bewährte Art, Leistungsunterschiede zu kompensieren. Offenbar gibt es keinen Grund, nicht zusammen auf Tour zu gehen. Ich finde es wirklich cool, wie kreativ Leute werden, wenn sie eine Idee (zusammen Touren) verfolgen.


Liegetandem


Nach 125 Kilometern auf weitestgehend rauen bis sehr rauen Straßen, beziehe ich eine gemütliche Unterkunft am rigaischen Meerbusen.


Ich wache auf und sehe Schatten. Nicht an der Wand und auch nicht vor dem inneren Auge. Nein, ich bin noch nicht zu viel Rad gefahren, sage ich zu mir selbst. Ich sehe reale Schatten, wenn ich aus der Terrassentür in den Garten schaue. Es sind Schatten von Bäumen, Büschen und Holzhütten. Wo Schatten sind, ist bekanntlich auch Licht. Und das kommt in diesem Fall von der Sonne. Hurra, es gibt sie noch. Frühstück gibt es hier erst um neun. Das ist mir zu spät. Ich lebe von meinen Vorräten in den Satteltaschen und sitze um acht im Sattel. Irgendwo hoffe ich einen Kaffee auftreiben zu können.
Die Straße wieder mal rau und rumpelig. Ich komme nicht so richtig in den Tritt, obwohl ich gestern Abend gut gegessen und dann tief und viel geschlafen habe. Nach einer geschlagenen Stunde entdecke ich einen Krämerladen und versuche mein Glück. An der Kasse steht eine Kaffeemaschine. Welch ein Segen. Mit der Dosis Coffein geht es dann doch deutlich besser.


Die Straße wird besser und die Sonne sorgt trotz des frischen Südostwindes (also von vorne links) für wohltuende Wärme. Und das Meer ist auch wieder blau. Immer wieder kann ich einen Blick auf den Rigaischen Meerbusen werfen. Ansonsten steht auch wieder viel geradeaus auf dem Programm. Zum Trost nimmt die Dichte an Ortschaften wieder zu. Spannend wird es noch einmal in einem mehrere Kilometer langen Baustellenabschnitt. Auf Sand- und Schottereinwegpisten werde ich immer wieder mit entgegen kommenden Fahrzeugen oder Baumaschinen konfrontiert, denn für die Phasen der Baustellenampeln bin ich natürlich zu langsam. Aber es läuft alles völlig stressfrei ab.
Die Ansteuerung von Riga verläuft dagegen einfacher als gedacht. Bereits 20 Kilometer vor dem Zentrum stoße ich auf einen ausgewiesenen Radweg. Die erste 10 Kilometer sind hundsmiserabel, die zweiten 10 Kilometer sind total super. Und schon geht es über eine monumentale Brücke in die Stadt.


Riga ist absolut faszinierend und sicherlich ein ganzes Wochenende wert. Die alte Hansestadt beeindruckt mit ihren Jugendstilbauten und der gut erhaltenen Altstadt. Nach 1150 kamen regelmäßig gotländische Kaufleute an den Unterlauf der Düna. 1201 gründete ein Bischof aus Bremen die Stadt Riga, die zur Hauptstadt von Livland wurde. Das Wachstum der Stadt war rasant. Innerhalb von weniger als 30 Jahren wuchs die Stadt um das fünf- bis sechsfache. Ich cruise den gesamten Nachmittag und frühen Abend durch die Stadt und verschaffe mir einen bleibenden Eindruck. Es sind hier einige sehr gestylte Menschen unterwegs, deren Einkommensgefüge wohl deutlich über dem lettländischen Durchschnitt liegen dürfte. Insgesamt habe ich aber den Eindruck guter Ausgewogenheit zwischen den Bevölkerungsschichten und auch in der Relation von Tourismus und ansässiger Bevölkerung. Erfreut stelle ich fest, dass auch hier einige sehr schön gestaltete Retro- und Singlespeed Räder unterwegs sind.



Riga


Außerdem ist noch ein anderer Reiseradler unterwegs. Seinen Namen kann ich leider weder richtig wiedergeben oder gar schreiben. Denn er kommt aus Xian in China, mit dem Rad. Er befindet sich wahrhaftig auf einer Reise. Von Xian ist er unter anderem über die Seidenstraße bis nach Riga geradelt. Sein Ziel ist Rom. Über 10.000 Kilometer liegen hinter ihm. Wir freuen uns beide wie die Schneekönige über unser Zusammentreffen. In kürzester Zeit sind wir mit leuchtenden Augen in einen intensiven Austausch vertieft. Er ist glücklich endlich mal wieder auf einen Reiseradler zu treffen und obwohl ich ja gerade selber unterwegs bin (wenn auch nur 1.700 km von zu Hause entfernt), löst die Begegnung bei mir reflexartig Fernweh aus…



Silk Road cyclist


Straßenbekanntschaften


Lange recherchiere ich abends dank moderner Smartphone Technik rund um die Seidenstraße. Kaum eine Route dürfte mit mehr Mystik und geheimnisvollen Abenteuern verbunden werden, als dieses Netz von Karawanenstraßen, das den Austausch von Waren, Kultur und Religion, aber auch von Wissen und Technologie über enorme Distanzen und durch einige der unwirtlichsten Gegenden der Welt ermöglich hat.


Aber die Seidenstraße ist nicht nur Geschichte. China will den Handel auf der Route ausweiten und die Infrastruktur massiv ausbauen. 40 Milliarden Dollar hat Peking bereitgestellt um Straßen, Schienenwege und Pipelines zum Beispiel bis nach Litauen zu bauen. Für die Bereitstellung weiterer Gelder initiierte Peking die Gründung der Asiatischen Infrastruktur Investitionsbank (AIIB), deren Gründungsurkunde im Juni 2015 gegen den Willen der USA von 57 Staaten unterzeichnet wurde. In der Folge sollen auch Wirtschaftskorridore entlang der Routen entstehen.


Lange liege ich noch wach und sinniere über die Seidenstraße (und Radreisen). Man müsste sie fahren, bevor sie wieder durch und durch erschlossen ist, kreist es mir mantraartig durch den Kopf. Mir gelingt es nicht, mich von der gedanklichen Endlosschleife zu befreien und versinke irgendwann in tiefe Träume.


Stimmen, zwischen hysterischem Gekicher und lustvollem Lachen, ziehen plötzlich meine Sinne auf sich. Die Stimmen kommen entfernt vom Flur. Sie nähern sich, werden deutlicher (klingen russisch) und verschwinden ins Nebenzimmer. Träge werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr, 05:30. Die Stimmen sind jetzt ganz deutlich. Selbst im Halbschlaf sind sie unschwer zwei Damen und einem Typen zuzuordnen. Die drei hatten wohl einen interessanten Freitag Abend und denken keinesfalls daran sich zur Ruhe zu betten. Weitere Details erspare ich mir an dieser Stelle. Ich bin froh, dass hier, trotz des Wochenendes, das Frühstück bereits um sieben serviert wird.


Entsprechend früh bin ich auf der Piste, etwas unausgeschlafen. Immerhin ist ein früher Samstag Morgen eine gute Zeit, Riga auf einem Fahrrad zu verlassen. Auf den Straßen ist kaum etwas los. Am Rande der Peripherie mache ich es, wie alle anderen Verkehrsteilnehmer auch und fahre ohne Umschweife auf die Autobahn. Wenn man lange genug unterwegs ist, sinkt die Hemmschwelle für so etwas deutlich.


Nach wenigen Kilometern schwenke ich auf die Nationalstraße 1 in Richtung Norden. Die Sonne lacht, es ist windstill und angenehm warm. Auch heute ist wieder viel geradeaus angesagt. Aber es ist der erste Tag seit über 1.500 Kilometern, an dem die Straßenbeläge zum Rollen einladen. Und trotz der anfänglichen Müdigkeit lasse ich es ordentlich rollen. Andere Radler warnten vor diesem Streckenabschnitt. Mir ist er keine Last, fast genieße ich ihn sogar. Aber ich muss auch keine 25 Kilogramm Ausrüstung transportieren und verfüge zudem derzeit über richtig gute Beine. Größtenteils steht mir neben der durchgezogenen weißen Linie ein ausreichend breiter Fahrstreifen zur Verfügung, so dass ich auf Autopilot schalte, meinen Gedanken nachhänge und es ordentlich rollen lassen.


In Saulkrasti schiebe ich einen Kulturblock in Form eines Museumsbesuches ein. Damit folge ich einem Tipp von Alexandra. Natürlich ist es ein Fahrradmuseum, eine öffentlich zugängliche Privatsammlung im Hinterhof. Die wertvollen Exponate sind ebenso liebevoll zusammengetragen wie ausgestellt und verblüffen unter anderem auch durch frühe Innovationen, wie beispielsweise ein Rad mit Wellen-(kardan)antrieb von 1901.


Fahrradmuseum


Ansonsten kurbel ich die Kilometer nur so weg, dass es eine wahre Wonne ist. In Ainazi bietet sich erstmalig die Chance auf eine schmale Küstenstraße auszuweichen, was ich dann auch tue. Der Grenzübergang nach Estland lässt noch erahnen, wie es hier früher zugegangen sein muss.


Grenze Lettland - Estland


Die folgenden fast vierzig Kilometer sind mit die schönsten der kompletten Tour. Schmale ordentliche Landstraße, nette Holz(ferien)häuser, Meerblick, beschauliche Dörfer, Strände…einfach wunderbar.


Strand in Estland


Das Tagesziel ist längst ausgemacht, als ich für die letzten rund 35 Kilometer wieder auf die Nationalstraße geführt werde. Da muss noch einmal der Autopilot ran. Mein elektronisches Navigationshelferlein hat die Tagesdistanz bis Pärnu mit 178 Kilometern hochgerechnet. Zum Zeitvertreib versuche ich im Kopf 10.000 km durch 178 km/Tag zu teilen…und stelle fest, dass es mit 175 einfacher geht. Bin ich vielleicht schon zu lange alleine mit dem Rad unterwegs, dass sich mir solche Gedankenspiele aufdrängen?


Die erste Unterkunft in Estland empfängt mich außerordentlich freundlich, interessiert und kommunikativ. Jedenfalls kommt es mir so vor. Verglichen mit den eher zurückhaltenden Menschen entlang meiner Route (außer in Kaliningrad), finde ich es hier nahezu warmherzig.


Das Frühstücksbuffet teile ich mit einer Busladung lustiger und ausgelassener finnischer Senioren. Jawohl! Lustige und ausgelassene alte Finnen. Zum Frühstück. – Nach meinem bisherigen Reiseweltbild ein Widerspruch in sich. Ich frage mich ernsthaft, ob sich meine Maßstäbe für menschliche Kontakte auf den vergangenen rund 1.860 Kilometern derart verschoben haben können. Sind sie gar nicht so ausgelassen, sondern kommen mir nur so vor? Vielleicht gibt es aber bei ihnen auch schon Café-Cognac zum Frühstück.


Ohne die Sache auflösen zu können, steige ich in den Sattel. Bevor es weiter geht, gönne ich mir eine kleine Stadtrundfahrt. Pärnu verfügt über einen drei Kilometer langen Sandstrand und ist spätestens seit Eröffnung der ersten Badeanstalt im Jahr 1838 ein beliebter Kur- und Badeort. Im Volksmund wird die Stadt als estnische Sommerhauptstadt bezeichnet, denn zu Beginn der Sommersaison übergibt der Bürgermeister von Tallin symbolisch die Stadtrechte an den Bürgermeister von Pärnu.


Meine Route führt nun nicht auf direktem Wege nach Tallin, sondern sie schwenkt etwas nach Westen, um dem Küstenverlauf zu folgen. Die Landschaft ist deutlich weniger monoton. Wälder und Moore wechseln sich mit Wiesen und Feldern ab. Die Dichte an Höfen und kleinen Orten nimmt zu. In Lihula finde pausiere ich in einem sehr netten Café, welches zusammen mit einem historischen Museum der Landgemeinde in einem alten Gutshaus untergebracht ist. Wie man mir berichtet hat das Gebäude unter der sowjetischen Nutzung, bis heute sichtbar, stark gelitten. Hoffentlich finden sich Wege, die Mittel für den Erhalt des Gebäudes aufzubringen, denke ich bei der Weiterfahrt.


Café in Lihula


Die weiteren Gedanken gelten dann dem vom Westen aufziehenden Unwetter. Die bedrohlichen dunklen Wolken sind eine sehr starke Motivationshilfe für ‚Kette rechts‘ Vortrieb. Vor mir liegen noch 80 Kilometer. Ich gehe nicht davon aus trocken zu bleiben, sehe es aber sportlich und setze alles daran möglichst lange trocken zu bleiben. Nach 48 Kilometern mit einem Schnitt von fast dreißig Stundenkilometern, löst sich das Unwetter so plötzlich auf, wie es erschienen ist. Ich lasse es wieder moderater angehen und stoße auf ein Schweizer Radreisepäarchen. Entspannt tauschen wir uns aus und radeln zusammen weiter.


Das Herrenhaus in Padise ist mein Tagesziel. Es sind nur noch knapp 70 Kilometer bis nach Tallin und die Reise neigt sich allmählich dem Ende entgegen. Da möchte ich mir noch einmal etwas Besonderes gönnen. Padise Manor ist in einem unglaublich guten Zustand. Alles ist hochwertig und sehr geschmackvoll komponiert. Wie so vieles in der Geschichte des Baltikums, ist auch dieses Herrenhaus mit deutschen Ursprüngen verwachsen. Eine Familie aus Deutschland hat das Gut aufgebaut und weit über 200 Jahre lang bewirtschaftet. In den Wirren des zweiten Weltkrieges flüchtete die Familie vor den heranrückenden russischen Truppen und landete in den Vereinigten Staaten von Amerika. Mit der Öffnung des Ostens nach 1989 kehrten der Sohn sowie der Enkel nach Estland zurück und bauten den Hotelbetrieb auf. Somit setzt sich die mit dem Herrenhaus verbundene Familientradition fort.


Auf der letzten Etappe nach Tallin schlage ich einen nordwestlichen Bogen über wenig befahrene Straßen entlang der Küste ein. Dabei entdecke ich weitere beeindruckende Herrenhäuser. Das war wohl wirklich eine reiche Gegend. Das manifestiert sich in Tallin selbst am besten. Während der gesamten Tour wurde doch eine gewisse Neugier für die Historie der Handelsstädte und -wege geweckt. Fasziniert versuche ich mir vorzustellen, wie der Warenverkehr über die Fernhandelswege abgewickelt wurde. Und wieder kommt mir die Seidenstraße in den Sinn. Da nicht nur Handelsreisende durstig sind, finden sich in Tallin zahlreiche Möglichkeiten nicht zu verdursten.


Estonian Pub


Auf wilden Wölfen durch die Stadt reitende weibliche Wesen sichte ich dann allerdings doch nicht. Vielleicht habe ich aber auch einfach nicht genug getrunken.


Dennoch geht es bei mir am nächsten Tag alles andere als wild zu. Wie auch bei den vielen anderen Besuchern Tallins. Und hier sind nicht wenige Besucher unterwegs. Denn Tallin ist ganz klar ein starker touristischer Anziehungspunkt.


Fremdenführung


Die Ursprünge der Stadt reichen bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts zurück, als auf dem heutigen Domberg eine hölzerne Burg errichtet wurde. In dieser Zeit wurde auch ein Hafen angelegt. Den Namen Tallinn trägt die Stadt seit der Eroberung durch den dänischen König Waldemar im Jahr 1219. Tallinn bedeutet so viel wie “dänische Stadt” oder “dänische Burg”.


Blick vom Domberg


Dänen und Deutsche prägten den wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt. So wurden beispielsweise 1230 rund 200 westfälische und niedersächsische Kaufleute angeworben. Es bestand ein enger Kontakt zur Hanse und Tallin wurde ein wichtiger Knotenpunkt im Ostseehandel. Die Stadt erlebte eine bewegte Geschichte bis hin zur sowjetischen Herrschaft nach dem zweiten Weltkrieg.


1991 wurde Tallin Hauptstadt des unabhängigen Estland. Eine niedrige Steuerlast und und ein liberales Wirtschaftsumfeld trugen zu einem großen Wirtschaftswachstum bei. Im Süden der Stadt entstehen noch immer moderne Neubausiedlunden für die stärkeren Profiteure des Wohlstandes. Das habe ich bei meiner Ansteuerung eindrucksvoll zu sehen bekommen. Das Preisniveau liegt auf westlichem Niveau. Insgesamt ist das ein starker Kontrast zu den Siedlungen im sozialistischen Stil.


Tallin ist die wirtschaftstärkste Stadt des Landes und steuert 60% des estnischen BIP bei. Firmen mit großen Namen im Elektro- und Telekommunikationsbereich sind hier zu finden. Zudem existiert hier der größte Bankensektor des Baltikums. Vom Domberg betrachtet, bilden die modernen Geschäftsgebäude in Richtung Westen den Hintergrund für die pittoreske Altstadt. Aber natürlich ging es auch früher ums Geldverdienen.
Ordentlich verdient wird heute auch mit dem Tourismus. In einem Gespräch beim Frühstück bedauert eine Dame, dass Tallin überhaupt nichts “natürliches” , vorzuweisen habe. Wir philosophieren zwei Kaffee lang um diese Thematik, ohne sie jedoch aufzulösen. 

Ich kann ihre Enttäuschung gut verstehen. Da reist die betagte Dame mit der Unterstützung ihrer Tochter extra hier her und findet sich in einem estnischen Disney Land wieder. Nichts anderes ist es im Altstadtbereich. Jedes und zwar absolut jedes Geschäft und Lokal ist ganz und gar touristisch ausgerichtet. Als sie von meiner Reise hört, fragt sie interessiert und wissbegierig danach, wie es sonst so in den Ländern außerhalb der Städte aussieht. Wir beschließen das Gespräch beim gemeinsamen abendlichen Dinner fortzusetzen.


Ich stürze mich ins Disney Land und kann die Ansicht der Dame immer besser verstehen… Morgens ist es zum Glück noch recht ruhig in der Stadt, doch sobald die Kreuzfahrer Land betreten ist Schluss mit lustig. Kein Wunder, dass der Bürgermeister zu Beginn der Sommersaison die Stadtrechte an Pärnu abtritt. Wahrscheinlich flüchtet er sich auch höchstpersönlich dort hin.


Mein Erkundungsradius wird derweil größer. Abseits des touristischen Trubels finde ich ruhige und lauschige Ecken. Am ehemaligen Knast vorbei, gelange ich zu einem abgefahrenen Café mit etwas bunterer Kundschaft. Nach dem Besuch des maritimen Museums, welches mir richtig gut gefällt, kehre ich zu dem coolen Laden zurück und lasse den Tag und irgendwie auch die Tour ausklingen.


Obwohl Radreisen von außen betrachtet, einen sehr ähnlichen Eindruck vermitteln, fallen sie genauer betrachtet oft sehr unterschiedlich aus. Charakteristisch für meine Baltikum Tour ist die relativ geringe Bevölkerungsdichte, wie auch eine gewisse Reserviertheit der Menschen. Nach einer Empfehlung gefragt, würde ich Baltikum Interessierten am ehesten Estland empfehlen. Mit den Esten bin ich eher warm geworden und die Landschaft ist viel abwechslungsreicher als in anderen Regionen des Baltikums.


Mein klarer Favorit ist jedoch Kaliningrad. Die Zeit und die Erfahrungen mit den Kaliningradern war wunderbar und hat bei mir definitiv Lust auf mehr Russland ausgelöst. Und da war ja noch die Sache mit St. Petersburg…


Mit dem Einlaufen der Fähre in Helsinki erreiche ich das sechste Land meiner Reise. So richtig elanvolle Entdeckerlust will sich jedoch nicht mehr einstellen. Vielmehr verspüre ich die Melancholie des erreichten Ziels. Und das liegt mit Tallin ja bereits hinter mir. Über zweitausend Kilometer habe ich bei der Erkundung des Baltikums zurückgelegt. Dabei bin ich in der Gegenwart des Reisens immer wieder auf interessante und bedeutsame Anknüpfungspunkte in der Historie gestoßen. Das gilt für die Geschichte des Baltikums ebenso, wie für meine eigene Geschichte. Je länger einsame Geraden sind, desto mehr kommen mir Kurven und Abzweigungen des Lebens in den Sinn. Manches bleibt dabei offen, anderes lässt sich, wenn vielleicht auch erst nach Jahren, schließen. Eine Gerade kann dabei ebenso für die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten, als auch für Unendlichkeit stehen. In jedem Fall gilt es die richtigen Folgerungen für die Zukunft zu finden. Nach dieser Reise fühle ich mich gut gewappnet. Hin und wieder benötige ich wohl lange Geraden.


Ich befinde ich mich im Rückreisemodus. Nun ist alles ein wenig logistisch orientiert. Für Helsinki habe ich mir keine besonderen Ziele gesetzt. Die Fähre nach Travemünde geht erst am nächsten Tag. Ohne Eile tingle ich durch zu Szeneviertel umstrukturierte Hafenbereiche und folge anschließend der Küstenlinie. Ruhige Plätze mit Blick auf das Wasser und die vorgelagerten Schäreninseln laden zum Verweilen ein. Das Wetter ist grau und das Ende des Sommers wirft seine Schatten voraus. Nur noch vereinzelt folgen Segelboote ihrem Kurs.


Segler vor Helsinki


Große Fährterminals weisen gemeinhin den Charme von Industriehäfen auf. So auch der 25 Kilometer östlich vom Stadtzentrum gelegene Finnlines Anleger. Zum Glück finde ich im nur drei Kilometer entfernten Vuosaari einen kleinen Yachthafen mit einem lauschigen Café, in welchem sich am Abreisetag die Wartezeit angenehm überbrücken lässt.


Aufstellspuren von Fähranlegern sind wie Brenngläser, gerichtet auf die Reisenden eines Landes. Hier konzentrieren und verknüpfen sich Reiserouten und Geschichten. Die ursprünglich zum Ausklang der Reise gedachte Fährpassage entwickelt sich zu einem echten Höhepunkt der Tour. Nicht nur, dass sich das Wetter von seiner sonnigsten Seite zeigt, auch einige Mitreisende lassen die Seereise erstrahlen.


In der Gesellschaft von vier Rad- und Motorrad-Reisenden verdichtet sich unsere Runde zu einer komplizenhaften Clique. So unterschiedlich wir Protagonisten und unsere Reisen auch sind, so sehr teilen wir eben die gewisse Sicht der Dinge. Wir führen Relingsgespräche. Gespräche mit besonderem Tiefgang, in denen der Horizont zum Sehnsuchtsort wird.


In order to discover new oceans you must have courage to loose sight of shore, heißt es so treffend bei  Antoine de Saint Exupéry.


Neuen Horizonten entgegen – ist wohl das unausgesprochene Motto an der Reling. Aus der vorsichtigen Liasion ist eine bewährte Verbindung mit Sehnsuchtsblick auf den Horizont erwachsen. Mein Pure Bros wird mich dabei in vielerlei Hinsicht und auf Wegen unterschiedlicher Beschaffenheit in nah und fern begleiten.


Immer bereit für neue Horizonte



Text und Fotos Andres Thier 08/2016