Crazy Run 2025
Oder was ist wirklich verrückt?
On the Road
Ein frischer Wind aus West treibt die Wolken am Himmel vor sich her. Bäume biegen sich unter harten Böen und Büsche rascheln am Wegesrand. Auf angrenzenden Koppeln grasen Pferde. Im Süden die Silhouette des Weserberglandes. Ein Septembernachmittag irgendwo in Niedersachsen.
Im Norden ist ein sonoriges Grummeln zu vernehmen. Und es kommt deutlich hörbar näher. Das sind wir. Die Crazy Runner.
Verwegene Gespannbesatzungen, denen es nichts ausmacht, sich auch mal auf einen Feldweg zu verfahren. Der starke Seitenwind trägt lange Staubfahnen davon. Auf den Koppeln laufen Pferde mit wehenden Mähnen mit uns mit. „Fliegende Pferde“ – der Refrain des Achim Reichel Songs kommt mir in den Sinn. „Fliegende Pferde laden mich ein, auf ihrem Rücken mit der Welt eins zu sein…“
Das trifft es auf den Punkt. Der um eine gute Spur bemühte Fahrer und sein Mitfahrer tauschen einen verschwörerischen Blick aus. Und weiter geht die wilde Fahrt. Wir sind die dritte Gruppe des Crazy Run Trosses 2025. Obwohl wir noch nicht lange zusammen unterwegs sind, haben wir uns gut aufeinander eingestellt. Sowohl die einzelnen Gespannbesatzungen, als auch der Gruppenverband, bestehend aus Solomaschinen und Gespannen. Unsere Fahrweisen harmonisieren und wir agieren konsequent. So gelingt es uns dicht zusammenzubleiben und wir riskieren keine überholenden Autos, die sich in Lücken drängeln. Bei den Ortsdurchfahrten schauen Bewohner und Passanten interessiert auf und winken uns zu.
So gesehen sind wir nicht nur zufrieden und haben großen Spaß, wir sind auch ein Stück weit eins mit der Welt. Wer kann das schon von sich behaupten? Und doch geht es noch um viel mehr.
Crazy Run
Mit der Welt eins zu sein, bedeutet für mich auch, aktiv an der Vielfalt des Lebens teilzuhaben und diese dadurch zu fördern. Genau in diesem Sinne bietet der Crazy Run Bremen e.V. den passenden Anknüpfungspunkt.
„Der Crazy Run initiiert seit 2004 ungewöhnliche Projekte mit geistig, körperlich und psychisch behinderten und sogenannten nichtbehinderten Menschen. Durch die gemeinsamen Aktionen werden für alle Menschen, Blickwinkel auf das eigene Leben verändert und Gewohnheiten durchbrochen…
Menschen mit Beeinträchtigungen werden oft wenig in ihrer Eigenständigkeit gefördert. Besonders für Dinge, die Lebensfreude, Abenteuer ausdrücken - wie es das Motorradfahren sein kann - zeigen Menschen mit Beeinträchtigungen häufig großes Interesse und haben Lust dies als Beifahrer:in auszuprobieren. Dadurch wird auch ein Stück Selbstständigkeit und Selbstbewußtsein vermittelt: einmal ein wenig Auszubrechen aus dem "wohlbehüteten" Dasein und das Erleben von ein wenig "Freiheit“.
So werden auch neue Erfahrungen mit Grenzen gemacht (die z.B. die jeweilige Beeinträchtigung mit sich bringt) und Menschen mit Beeinträchtigung das Teilhaben am so genannten "normalen Leben" ermöglicht. “ …wie es auszugsweise in der Eigendarstellung heißt.
Vorbereitungen vor dem Start in Bremen
Letzte Instruktionen von Silke
Silke Rotermund ist die Begründerin und Organisatorin von Crazy Run. Ihrem unermüdlichen Engagement ist zu verdanken, dass über die Zeit ein ganzes Spektrum von Freizeitaktivitäten entstanden ist.
Testlauf für's Besenfliegen. Vielleicht bald ein neues Betätigungsfeld.
Im Ursprung und bei der hier geschilderten Tour ist das Motorradfahren das verbindende Element. Auf der Vereinshomepage führt Silke weiterhin aus: „Jeder Crazy Run erfordert ein verantwortungsbewusstes, umsichtiges und auch Ängste berücksichtigendes Motorradfahren von den Biker:innen.
Die Fahrer(innen) sind allesamt verantwortungsbewußt und sehr erfahren und haben Lust den behinderten Mitfahrer(innen) den eigenen Spaß an einer Motorradreise zu vermitteln. Der Funken der Beigeisterung für das Motorradfahren soll überspringen (jede Fahrerin und jeder Fahrer ist für seinen Fahrgast verantwortlich).“
Riders Briefing mit Silke
Weiter geht die wilde Fahrt
Genau in diesem Sinne finden wir uns am zweiten Tag des dreitägigen 21. Crazy Run mitten im Weserbergland wieder. Wir fahren in drei voneinander unabhängigen Gruppen, wobei jede Gruppe für sich, verkehrsrechtlich und -technisch einen Verband darstellt. Wie im Vorjahr, sind Rainer und ich wieder zusammen unterwegs. Beim zweiten Gespann vor uns, Ludwig und Nadine auf Honda CX 500, flackert das Rücklicht – wie im Vorjahr. Das Gespann vor uns, Hartmut und Ingo auf BMW R50, verbrennt etwas Öl – wie im Vorjahr. Und mein Guzzi-Gespann könnte eine höhere Rückenlehne im Boot vertragen – wie im Vorjahr. Wir sind also gewissermaßen eingefahren.
Unsere Route führt über geschwungene Landstraßen und verwinkelte, asphaltierte Wirtschaftswege. Wir befinden uns in einem Mittelgebirge und bewegen uns dreidimensional im Raum. Zur Verzückung der Gespannbesatzungen kommt fast ein Achterbahngefühl auf. Beim Fahren im Verband achtet man im Rückspiegel darauf, dass das Folgefahrzeug tatsächlich noch folgt. Ansonsten ist der Fokus in erster Linie auf das vorausfahrende bzw. die vorausfahrenden Fahrzeuge gerichtet.
Damit ein Verband sicher unterwegs sein kann, muss er von anderen Verkehrsteilnehmern auch als Verband wahrgenommen werden können. Dazu ist eine geschlossene und adäquat flotte Fahrweise notwendig, die Disziplin und Konzentration erfordert. Auf Landstraßen vermeidet man somit Überholer und Zwischendrängler, die den Verband sprengen würden. Auf ohnehin einspurigen Wirtschaftswegen ist das im Grunde nicht relevant. Dennoch pilotieren wir unsere drei Gespanne mit nahezu konstantem Abstand durch’s Geläuf, was großen Spaß bereitet, für die Fahrer, wie für die Beifahrer.
Unsere Gespanne haben sehr ähnliche Dimensionen und Leistungen, so dass wir nicht nur sprichwörtlich auf einer Linie unterwegs sind. Mehr als einmal muss ich über die Präzision und Synchronizität im Kurvenverlauf schmunzeln. Fahrer und Bootsbesatzungen agieren in den Kurven sauber und absolut synchron. Und von hinten sieht man, wie diese Bewegungen im Kurvenverlauf jeweils hintereinander ausgeführt werden. Sollte Schwanensee jemals in gewachster Baumwolle, schwarzem Leder und in klobigen Stiefel aufgeführt werden, sei dem Maitre de ballet unbedingt eine Crazy Run Tour zur Inspiration empfohlen.
Wer ist dabei, beim Crazy Run?
Die Vielfalt ist dabei. Den typischen Fahrer gibt es ebenso wenig, wie den typischen Fahrgast. Aber ich kann versichern, es gibt lange Abende mit Lagerfeuergesprächen. Für die frühe Menschheit bedeutete Feuer auch Wärme und Schutz. Vielleicht ist dies der Grund für sehr persönliche Gespräche, gemeinsamen Erleben auch ohne Worte und mystische Momente.
Bemerkenswert und beeindruckend ist der Gemeinschaftssinn unter den Teilnehmern. Jeder hilft jedem. Fahrer helfen Fahrgästen. Fahrgäste helfen Fahrgästen. Fahrer helfen Fahrern. Und Fahrgäste helfen Fahrern. Und das mit einer selbstverständlichen Leichtigkeit, die mühelos macht, was manchem von außen betrachtet nicht oder nur schwer überwindbar erscheint.
Dies ist sicherlich eine der großen Erfahrungen, die jeder vom Crazy Run mit in sein Leben nimmt. Jeder fasst mit an. Es wird unterstützt, ohne dass darum gebeten werden muss. Und wenn jemand um Hilfe fragt, gibt es keinen Grund, dass irgendetwas unangenehm sein muss. Es wird einfach geholfen.
Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Individualisierung unserer Gesellschaft wünsche ich mir oft ein wenig mehr Crazy Run für unser Land. Wir sollten dem scheinbar Verrückten (Crazy) mehr Raum in der sogenannten Normalität des Miteinanders einräumen.
Wer die Crazy Runner kennenlernen möchte, sollte sich einfach einbringen. Hier werde ich natürlich keine persönlichen Biografien öffentlich im www verbreiten. Lasst euch, mit eigener Offenheit, auf interessante Menschen, Fahrer wie Fahrgäste, ein. Kommt längs und macht euch selbst ein Bild. Dank der persönlichen Bereitschaft und Freigabe durch die Beteiligten ist der folgende kleine Teaser möglich.
Ludwig und Nadine sind mit einem Honda CX 500 Gespann unterwegs. Nadine kenne ich vom letzten Jahr. Sie hat großen Spaß auf kurvenreichen Strecken und genießt den vergleichsweise komfortablen Sitz des EML Bootes. Ludwig war schon 1986 beim schneereichen Elefantentreffen in Salzburg und ist hier seit dem ersten Crazy Run 2004 dabei. Die Honda ist Baujahr 1984 und das Gespann ist seit 1993 in seinem Besitz. Km-Stand ca. 105.000, bei 95.000 gab es einen Austauschmotor.
Hartmut und Ingo donnern buchstäblich auf einem stilvollen BMW-Konglomerat vor uns her. Ingo verfügt über ein profundes geografisches Wissen und wir schnacken abends über seine früheren Reisen. Hartmut nimmt seit 2009 am Crazy Run teil. Sein Gespann hat er 1982 auf Basis einer 1962er R50 selbst gebaut. R27-Schwinge, 80/7 Motor, Hoske-Tank (32 l), Steib TR500 Gfk-Nachbau aus Finnland und eine richtig gut klingende Edelstahlauspuffanlage, die er mal gegen ein Dürkopp Kardanfahrrad von 1923 getauscht hat, komplettieren sein Gespann. Kein Veteran, sondern einfach nur schön, wie er selber sagt. Zu Recht. Und er kann damit richtig gut umgehen. Es macht jedenfalls großen Spaß seiner Linie zu folgen. Damit das Ganze auch bremst, hat er eine Moto-Guzzi V7 Trommelbremse verbaut. Km-Stand (der Komponenten) nicht nachvollziehbar.
Georg und Detlef fahren mit dem goldenen K75 Gespann in Gruppe 2. Detlef ist der wichtigste Mann am Abend. Er managet die Getränkeausgabe. Georg hat bereits fünfzehnmal am Crazy Run teilgenommen. Zusammen mit einem Kumpel (XT500) ist Georg (DT250) 1979 über die Türkei, den Iran und Pakistan bis nach Indien gefahren, wohin es ihn mehrfach zum Motorradreisen zurückgezogen hat. Sein Gespann wurde 1985 von Stahmer gebaut und hat ihn und seine Frau über mehr als 28.000 km über den nordamerikanischen Kontinent gebracht. Km-Stand jenseits 300.000 (1 Austauschmotor).
Und dann ist da noch das wunderschöne Harley-Gespann, mit dem Horst und Jean Pierre unterwegs sind. Jean Pierre ist ein netter und sympathischer Typ. Wann immer wir uns begegnen, hat er ein Lächeln auf den Lippen. Auch ihm haben die verschlungenen Weserberglandwege am besten gefallen. Horst ist ebenfalls seit dem ersten Crazy Run mit von der Partie. Auch er hat sein Gespann selbst gebaut. Mit einem 1987er Evo Motor als Herz und dem original Steib-Boot aus den 1950er Jahren hat er 1995 sein Gespann erschaffen. Die auf der Persenning vermerkten Orte hat das Gespann allesamt auf eigener Achse angesteuert. Km-Stand: reichlich.
Dagegen ist mein Guzzi-Gespann nahezu jungfräulich. Aber Rainer und ich sind bereits ein gut eingespieltes Team. Auf der Basis einer Vorführmaschine mit 195 Kilometern auf der Uhr wurde es im August 2023 von Alois Löw fertiggestellt. Immerhin steht der Zähler im September 2025 bei rund 43.000 km, was zeigt, dass es ordentlich im Einsatz ist und auch schon manche Geschichte erzählen kann. Und vielleicht kann es als jüngstes Gespann im Feld, Interessierten Mut machen, sich dem Crazy Run anzuschließen.
Wie nimmt man teil, am Crazy Run?
Man nimmt Kontakt mit Silke auf und wird von ihr informiert und beraten. Und wenn es passt, meldet man sich an.
Um als Fahrer der Verantwortung für seinen Fahrgast gerecht zu werden und sicher im Verband fahren zu können, ist allerdings eine solide Fahrpraxis erforderlich. Des Weiteren bedarf es aus meiner Sicht einfach gesundem Menschenverstand, Lebenslust, Empathie, Interesse an anderen Menschen und Offenheit, um Teil des Crazy Run zu werden und Spaß dabei zu haben.
Niemand muss befürchten als Newbie außen vor zu bleiben. Für mich ist dies der zweite Crazy Run. Bereits beim ersten Mal wurde ich mit offenen Armen empfangen. Von den Organisatoren, den anderen Fahrern und auch ganz doll von den Fahrgästen. Bei der zweiten Teilnahme war es fast, wie in die Vertrautheit einer Familie zurückzukehren.
Die Worte der Eigendarstellung des Crazy Run Bremen e.V. sind keine leeren Hülsen. Sie werden gelebt und bereichern definitiv das Leben aller Beteiligten. Wer die Vielfalt des Lebens bejaht und sie unterstützen möchte, dem sei unbedingt die Kontaktaufnahme mit Silke empfohlen. Alles Weitere findet sich.
Crazy Run – es wäre verrückt, diesen Run nicht zu machen. Daher freuen sich die Crazy Runner über alle Unterstützer, die den Crazy Run weiterhin ermöglichen.
PS: Der wehende Schal auf dem Crazy Run Logo erinnert mich immer wieder an die wehenden Mähnen der kraftvoll laufenden Pferde. Einer der magischen Momente des Lebens. Wir können eins sein mit der Welt, wenn wir versuchen sie etwas runder zu machen und damit direkt bei uns selbst und unseren Mitmenschen beginnen.
Andreas Thier , September 2025