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  Motor-Rad-Reisen

Leserreise

Eine etwas andere Reise.


Leserreise


Natürlich ist es keine Leserreise im herkömmlichen Sinn. Lesezirkel, Bildungsbürger oder Lifestyle Magazine haben ebenso wenig damit zu tun, wie Publikationen, in denen hauptsächlich die Vorzüge bestimmter Treppenliftfabrikate angepriesen werden.
Da ich zu der gesellschaftlichen Randgruppe der fernsehlosen Menschen gehöre, greife ich vor allem im Winter zu dem ein oder anderen Buch. Je länger und dunkler der Winter erscheint, desto mehr kommt mir da in die Finger. Aus dem Lesespektrum des letzten Winters haben sich dann die Wegpunkte dieser Reise zusammengepuzzelt.


Das Leitmotiv entwickelte sich aus dem Umstand, zweimal mit dem Fahrrad im Norden Polens unterwegs gewesen zu sein (LINK, LINK) und, obwohl ich die Zeit an sich genossen habe, mit mehr Fragen als Antworten heimgekehrt bin. Ich behaupte mal in der Schule einigermaßen aufgepasst zu haben. Bestimmte Themen des Geschichtsunterrichts wurden aber zu meiner Schulzeit eher wie eine heiße Kartoffel gehandhabt. So lernten wir mehr über die alten Griechen, als über die indirekt auf unsere Kindheit nachwirkende jüngere deutsche Vergangenheit.


Auf den Radreisen recherchierte ich abends über die Orte, in denen ich gelandet war. In einer Mischung aus Entsetzen und weitergehendem Interesse nahm ich historische Fragmente wahr und mir wurde bewusst, dass ich mich in den Landstrichen aufhielt, aus denen ein Teil der Menschen stammte, von denen es zu der Zeit meiner Kindheit herablassend hieß, es seien die Zugewanderten aus dem Osten. Ich bin Mitte der 1960er Jahre im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen, was quasi automatisch zu einer gewissen interkulturellen Kompetenz führt, da der Ruhrpott seit der industriellen Revolution ohnehin ein Schmelztiegel von Menschen unterschiedlicher Herkunft war. Zur Zeit meiner Kindheit stammten viele Menschen aus Südeuropa und der Türkei. So war für mich vieles normal, was in anderen Teilen unseres Landes exotisch war. Aber das mit den Zugewanderten aus dem Osten löste sich mir als Kind nie so ganz richtig auf.
Zudem ging mir die aktuelle öffentliche gesellschaftliche Debatte zum Thema Flucht total auf den Senkel, da sie undifferenziert und parolenhaft hochgepeitscht wurde, mit sehr viel Meinung, aber sehr wenig Ahnung. Also habe ich mich den Winter über belesen. Besonders hervorheben möchte ich zwei Bücher des promovierten Historikers ANDREAS KOSSERT, geboren 1970. Flucht – Eine Menschheitsgeschichte. Kalte Heimat – Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945.


Über letzteres sagt Günter Grass: „Ich habe dieses Buch mit wachsender Spannung gelesen. Endlich ist diese verworrene und traurige Geschichte der Menschen dokumentiert, die nach 1945 von ihren eigenen Landsleuten ausgegrenzt wurden.“
Im Frühjahr fühlte ich mich präpariert und konnte mit Wilhelm Busch im Sinn, in Richtung Pommern und Masuren aufbrechen. „Drum o Mensch, sei weise, pack die Koffer und verreise.“



Der erste Wegpunkt


Am Vortag zum ersten Mai geht es los. Mit dem bepackten Gespann zur Arbeit und nach einer Stärkung in der Kantine gen Osten. Es bleibt ein halber Fahrtag, um von Kiel aus der Grenze zu Polen möglichst nahe zu kommen. Hochdruckwetter, 23 °C, was will man mehr? Ich betrachte die Fahrt als reine Verbindungsetappe und treibe mein Guzzi-Gespann voran. Abends errichte ich mein Zelt auf einem kleinen Campingplatz, 150 m vom Stettiner Haff entfernt. 


Die Wellen laufen hörbar auf den Strand. Herrlich. In Gesellschaft eines österreichischen E-Radlers, mit Klappzelt im Hänger, bin ich voll im Unterwegssein angekommen. Der E-Radler ist in seiner Heimat gestartet und seit vier Wochen unterwegs.



Da die Versorgungslage ebenso dünn, wie die Besiedlung ist, beschließe ich am nächsten Morgen die knapp 70 km bis Stettin zu fahren und dort möglichst nett zu frühstücken. Auf geht’s. Die Landstraße schlängelt sich durch waldreiches Gebiet und vereinzelte Häuseransammlungen. Von einer Grundstückseinfahrt kommend, setzt sich ein MZ-Gespann vor mich. Ein kurzer Gruß und schon gibt er Gas. Und zwar ordentlich. Ich muss wirklich sagen, dass ich beeindruckt bin, wir er durch die Kurven flitzt. Ich glaube, er möchte mir auch genau das zeigen. Trotz der Zweitaktfahne bleibe ich hinter ihm, was ihn wahrscheinlich weiter anspornt. Und so geht es mit viel Fahrspaß forsch voran. Irgendwie ein bisschen wie früher, MZ- und Retro-Guzzi-Gespann, denke ich.


In einem der folgenden Dörfer trennen sich unsere Wege. Die Dorfstraße verläuft in einem Linksbogen. Die Fahrbahn hat Gefälle nach Links. Und wir sind noch immer flott unterwegs. Der MZ-Pilot setzt zum Rechtsabbiegen an. Noch immer flott. Im Grunde zu flott. Der Abbiegewinkel des abgehenden Wegs ist an sich ist nicht kritisch, die andersartige Neigung sehr wohl. Als das MZ-Gespann über die Kurvenaußenkante der Dorfstraße kommend aus den Federn gehoben wird, kann der Fahrer dem Straßenverlauf nicht mehr folgen, ohne einen Überschlag zu riskieren. Sein Kurvenradius ist deutlich größer als der, der Straße. Ich gehe vom Gas runter und stelle mich auf eine erste Hilfe-Leistung ein, da er im spitzen Winkel auf eine Hauswand zufährt. Sich bereits im Vorgarten befindend gelingt es ihm akrobatisch seine Fuhre irgendwie aufrecht zu halten und eine Kurskorrektur einzuleiten. Er mäht mit seiner Zugmaschine noch ein paar Blumen nieder und kommt knapp an der Hauswand vorbei. Über den Rasen des Vorgartens wechselt er wieder auf den Weg. Und weg ist er. Ohne sich umzuschauen. Wahrscheinlich macht man das hier so. (Wie gut, dass es weder Mauer, Zaun noch Hecke gab…)



Wenige Zeit später befinde ich mich in Stettin am repräsentativen, sternartigen  Plac Gundalzki (früher Kaiser-Wilhelm-Platz). Die Gestaltung der Straßenachsen erinnern an Paris, die Architektur an Berlin. Unter Bäumen vor der Sonne geschützt, sitze ich vor dem alteingesessenen Café E.Wedel und frühstücke in aller Ruhe. Es ist Feiertag, die Menschen sind entspannt und flanieren. Ich beantworte die und andere interessierte Frage zu meinem Gespann.


Was für ein Auftakt des ersten richtigen Reisetages. Passender hätte er nicht sein können, denn Stettin wurde zum Wegpunkt, weil ich mal einen Roman aus dem Jahr 1927 gelesen habe, in dem eindrucksvoll geschildert wird, wie die Protagonistin Thora auf ihrer Maschine, begleitet von Kumpanen aus einem Berliner Motorrad-Klub, sonntags für einen Café von Berlin nach Stettin donnert. Zu der Zeit muss das fast ein Abenteuer gewesen sein. Durch das morgendliche MZ-Abenteuer fühle ich mich fast ein wenig in die Zeit zurückversetzt.



Gestärkt setze ich die Fahrt in Richtung Nordosten fort. Die Landschaft in Pommern ist abwechslungsreich. Weitläufige Wälder, scheinbar unbewirtschaftetes Grasland, Wiesen und große Flächen in landwirtschaftlicher Nutzung, wobei die Bewirtschaftung eher kleinteilig erfolgt. Ab Mittag wird das Bild durch zahlreiche Seen geschmückt, auf denen sich Wassersportler tummeln. 


Grund- und Endmoränen des Baltischen Landrückens prägen die Landschaft der Pommerellen. Es wird hügeliger und kurvenreicher. Wunderbar.
Mein Routenverlauf ist dynamisch und flexibel. Ich fahre keinen vorbereiteten GPS-Track ab. Der Zufall und spontane Entscheidungen sollen eine Chance bekommen. Ich fahre ohnehin erst seit zwei Jahren mit elektronischer Navigationshilfe. Sie dient eher dem Einhalten der groben Richtung oder dem Auffinden konkreter Adressen.


 Übernachtungspunkte entscheide ich typischerweise im Laufe des betreffenden Tages. Dafür muss man zur Not auch mal improvisieren können. Einem Tipp folgend steure ich am frühen Abend eine Adresse in einem kleinen Dorf an, die jedoch nicht so richtig nach Zeltübernachtungsmöglichkeit aussieht. Ich klopfe an und ein Mann mittleren Alters öffnet die Holztür. Mit Händen und Füßen gelingt uns ein gewisses Maß an Verständigung. Ich bin bei der Privatadresse eines Kanu- und Kajakverleihers gelandet. Mein Ziel ist aber offensichtlich ein Kanurastplatz an einer beliebten Paddelstrecke. Bei der Wegbeschreibung scheitert unsere Kommunikationsfähigkeit. Ohne Zögern deutet er mir an, dass ich ihm einfach folgen soll und springt in sein Auto. Das ist wirklich super nett. Den Weg hätte ich niemals gefunden. - Dzieki!


Es gibt ein ordentliches Sanitärgebäude, eine große Sitz- und Grillecke und eine große Wiese. Ich bin der einzige Übernachtungsgast. Was für ein Luxus. Drei Paare, die den ersten Mai dort verbracht haben, packen gerade ihre Grillausrüstung zusammen. Das Gespann erregt mal wieder Aufsehen. Und so schnacken und lachen wir noch eine Weile. Mein Kennzeichenkürzel ist ihnen nicht unbekannt. Sie hat mal auf dem Himbeerhof Steinwehr gearbeitet. Klein ist die Welt. Nachdem sie alles klariert haben und heimgefahren sind, genieße ich die ruhige Atmosphäre dieses wunderbaren Übernachtungsplatzes.



Einziger Übernachtungsgast.


Da ich vor einigen Jahren Danzig besucht habe, umfahre ich am folgenden Tag den Großraum der Stadt. Der Übergang vom hügeligen Pommerellen ins das weite Weichseltal ist beeindruckend. Die Weichsel ist mit über tausend Kilometern Länge der längste in die Ostsee fließende Fluss und ist für europäische Verhältnisse vergleichsweise unreguliert und naturbelassen. Das Einzugsgebiet reicht bis in die Ukraine. Bereits römisch-antike Autoren erwähnten die Weichsel vor mehr als 2000 Jahren.


Die Weichsel war für den Handel von hoher Bedeutung. Die Blütezeit lag zwischen 1411 bis 1772. Über den Handelsplatz Danzig bestand die Anbindung von Polen-Litauen an die westeuropäischen Handelsnationen der Engländer und Holländer. Polen-Litauen galt damals als Kornkammer des Kontinents. Es finden sich auf Siedlungszeugnisse von geflüchteten und/oder damals angeworbenen Niederländern in der Region.



Nicht angeworben, aber dennoch breitgemacht hat sich der Deutsche Orden. Wie mir dann doch noch aus dem Geschichtsunterricht bekannt ist, haben die Brüder während der Kreuzzüge im sogenannten Heiligen Land ordentlich was auf die Mütze bekommen und sich auch aus diesem Grund die Ostexpansion als neues Geschäftsmodell erkoren, worin sie zunächst auch recht erfolgreich waren. In diesem Zusammenhang wurde zwischen 1270 und 1300 die ursprüngliche Marienburg am Nogat errichtet. 

Marienburg


Das Schicksal der Burg ist ein Spiegelbild der Geschichte der Region, des Landes. Bis hin zu den Nationalsozialisten, die den Deutschen Orden und damit auch die Marienburg für ihre Zwecke ideologisiert haben.
Heutzutage wird sie überwiegend als Museum genutzt und gehört seit 1997 zum Weltkulturerbe der UNESCO. Das imposante Bauwerk ist einer der wichtigsten Anziehungspunkte für Touristen in Polen, was sich in den umliegenden Cafés deutlich zeigt. Dennoch gelingt es mir ein lauschiges Plätzchen zu finden.




Mein nächstes Ziel ist die Nehrung, die das Frische Haff zur Danziger Bucht abgrenzt. Jenem zugefrorenen Haff, welches zum Ende des Zweiten Weltkrieges für zehntausende ostpreußische Flüchtlinge den einzigen Fluchtweg darstellte, als ihnen die nach Westen vorrückende Rote Armee den Landweg abschnitt. Tausende Menschen erfroren, starben durch Maschinengewehrbeschuss aus russischen Jagdflugzeugen oder durch Bombardierungen der Eisdecke. Das Frische Haff ist eineinhalbmal so groß wie der Bodensee. – Warum ich da hin will? Mir sind in meinem Leben Menschen begegnet, die diese Tragödie als Kinder oder Jugendliche erlebt haben und mir unter bitteren Tränen davon berichtet haben. Ich will dort einfach einen Moment verweilen und innehalten. Das gestaltet sich allerdings gar nicht so einfach, da die Frische Nehrung durch und durch touristisch erschlossen und völlig überlaufen ist. Aber ich habe Glück und finde ein adäquates Plätzchen.



Als Tagesziel schaue ich mir einen kleinen, ruhigen und stadtnahen Campingplatz in Elblag (Elbing) aus. Ich mag die Stadt mit ihrer ruhigen und freundlichen Ausstrahlung und genieße den Spaziergang vom Campingplatz in die Stadt. Einst gehörte Elblag neben Danzig und Thorn zu den führenden Hansestädten im östlichen Mitteleuropa. So beteiligte sich ab 1350 die Elbinger Flotte an den Kämpfen der Hanse gegen norwegische und dänische Seeräuber. Abends tausche ich mich noch mit deutschen Wohnmobilrentnern aus. So richtig sind wir jedoch nicht auf einer Wellenlänge. Sie haben kein Verständnis dafür, dass ich Sorgen wegen überfüllter Campingplätze nicht teile.




Der folgende Morgen führt mich weiter nach Osten. Den Landschaftstyp der Weichselmündung verlassend erreiche ich Masuren. (Nebenbei bemerkt. – Es heißt wirklich ‚Masuren‘ und nicht ‚die Masuren‘.) Bei identischer geologischer Entstehungsgeschichte ähnelt die Landschaft der, Pommerns. Allerdings ist es hier ‚amphibischer‘. Der Westteil befindet sich auf der Eylauer Seenplatte, der Ostteil auf der Masurischen Seenplatte.





Gepäckträger geprüft und für gut befunden.


Es herrscht stabiles Hochdruckwetter und ich lasse mich bei Sonnenschein durch Masuren nach Osten treiben. In mancher Situation lächle ich in mich hinein und muss an Siegfried Lenz „Kleine Erkundungen der masurischen Seele“ denken, wie er seine Erzählungen in „So zärtlich war Suleyken“ nennt. Siegfried Lenz wurde 1926 in Lyck, dem heutigen Elk geboren. Wohl wissend, dass es wahrscheinlicher ist, Masurische Nachfahren in Gelsenkirchen, Bochum oder Wanne zu treffen, als hier. Aber es gibt auch Ausnahmen. Und hier erweist sich das Gespann mal wieder als Kontaktbeschleuniger, so dass mich der ein oder andere Einheimische auf Deutsch anspricht.

Fachmann. Er hat in aufwändiger Arbeit ein M72-Gespann restauriert, mit dem auch fährt.



Der nächste Wegpunkt


Der Ursprung der Gedanken zu diesem Wegpunkt liegt auf der Zeitachse schon etwas weiter zurück. Mit meiner Moto-Guzzi Griso 850 hatte ich den geografisch südlichsten, den westlichsten und den nördlichsten Punkt Europas angesteuert. Die Griso hatte zwar mittlerweile über 100.000 km auf der Uhr, aber sie rief nach weiteren Zielen. Nicht schwer zu erraten, erschien mir der östlichste Punkt das logische nächste Ziel zu sein. Aber, wo ist der östlichste Punkt Europas? Gedanklich sah ich mich schon auf der entsprechenden geografischen Breite über Moskau und Kasan hinaus nach Osten gen Ural-Gebirge fahren. Mit einem Ölwechsel und frisch eingestellten Ventilen erschien mir das (damals vor 02/2022) gar nicht so abwegig.


Mit meinem Ural-Ansatz lag ich zwar nicht ganz verkehrt, aber das Ergebnis der genaueren Recherche lag in einer für Landfahrzeuge absolut unerreichbaren Region. Gedanklich hängengeblieben ist bei der Recherche jedoch der nördlich von Vilnius gelegene geografische Mittelpunkt Europas (gemäß der Bestimmung durch das Nationale Geographieinstitut Frankreichs). Ein symbolischer Punkt, der für sich gesehen wahrscheinlich nicht die Anreise lohnt. Eher etwas für den Fall, wenn man mal in der Nähe wäre. – Und das war ich nun.


Denn von Sulwaki im Nordosten Polens sind es nur 230 km bis zum Mittelpunkt Europas in Litauen. Auf geht’s. Als erstes durchfahre ich den sogenannten Sulwaki Korridor. Benannt nach der südlich gelegenen Stadt, handelt es um die einzige Landverbindung zwischen den baltischen Staaten und den übrigen NATO-Partnern. Im Westen liegt Kaliningrad, im Osten Belarus. Die Entfernung beträgt rund 65 km. Insbesondere seit der Annexion der Krim 2014, gilt der Korridor als eine der militärisch potentiell entzündlichsten Regionen in Europa, wie der Kommandeur der US-Streitkräfte in Europa, General Ben Hodges, während der Konferenz CEPA Forum 2015 schilderte.



Angesichts der geopolitischen Situation kommt bei mir ein etwas dunkles Gefühl auf, als ich die polnisch-litauische Grenze passiere und mich in ein im Zweifelsfall isoliertes Territorium begebe. Aufgefangen wird das jedoch durch die netten und offenen Litauer sowie durch eine im Gesamten freundliche Atmosphäre. Mentalität und im Lebensstil unterscheiden sich deutlich von Polen.



Durch Moränen- und Waldlandschaften führende Landstraßen bringen mich zum Ziel. Wie vermutet, zählt der symbolische Wert der Markierung. Aber es ist ein Statement, das in der heutigen Zeit wichtiger denn je ist. Auch wenn es in der EU ohne Zweifel viel Verbesserungspotential gibt, eines ist klar, 27 Einzelstaaten hätten niemals ein vergleichbares Gewicht auf der Weltbühne. Und sicherheitspolitisch schon gar nicht.
Es gibt ein Blockhaus mit Informationsmöglichkeiten, in dem eine sehr freundliche und wissende junge Dame ihren Dienst versieht. Gewissermaßen das Gesicht Europas, schmunzele ich innerlich. Sie hat beide Augen zugedrückt, als ich im Schritttempo mit dem Gespann über den Fußweg ankam. Fahrzeuge sind kategorisch verboten. (Ich wollte es keineswegs außer Sichtweite mehrere hundert Meter entfernt dem Schicksal überlassen.) Europa zeigt sich gnädig. Ich bin der einzige Besucher und bei einem Kaffee plaudern wir über Europa und die Welt.

Am geografischen Zentrum Europas (gemäß Definition des nationalen französischen Instituts).



Sie gibt mir einen Camping-Tipp mit auf den Weg. Nach einer angenehmen Fahrt über geschwungene Landstraßen erreiche ich den auf der gegenüberliegenden Seeseite von Trakai gelegenen Campingplatz. Welch ein Juwel. Es handelt sich wahrscheinlich um ein ehemaliges Ressort aus Zeiten des Eisernen Vorhangs. Die Gastronomie wurde im letzten Jahr von der aktuellen Betreiberin übernommen und ist der Hit. Terrasse mit Seeblick, chillige Musik, gutes Essen, nettes Publikum. Der Tag klingt angenehm aus.

Die Burg wurde in der zweiten Hälfte des 14 Jahrhunderts errichtet und konnte erfolgreich gegen die Ritter des Deutschen Ordens verteidigt werden. Sie diente ihrem Fürsten als Residenz, bevor er die neue Hauptstadt Vilnius gründete.

Neben einem Kastenwagen der einzige Gast.






Wieder ein literarischer Wegpunkt


Der nächste Wegpunkt liegt noch in Litauen und ist wieder literarischer Natur. Druskininkai wurde bereits 1794 vom damals amtierenden König per Dekret zur Heilstätte ernannt und unter Zar Nikolaus I. wurde das erste Sanatorium für Beamte des russischen Reiches errichtet. 





Und Druskininkai war Ausgangspunkt einer Hochzeitsreise nach Shanghai – und zwar 1934, mit einem BSA-Gespann!



Hochzeitsreise nach Shanghai, Halina Korolec-Bujakowska. Für mich ist eines der faszinierendsten Motorradreisebücher. Zudem ist die Entstehungsgeschichte des Buches eine ganz besondere, wie hier zu lesen ist. Buchvorstellung. Das ehemalige Elternhaus von Stach existiert noch und ich habe es mir nicht nehmen lassen, diesen Startpunkt der Reise aufzusuchen. Für manch einen Leser dieses Berichtes mag es bereits exotisch erscheinen, mit dem Motorradgespann nach Litauen zu reisen. Aber mich fasziniert der Gedanke, an dem Punkt zu stehen, von dem aus, die Protagonisten vor nunmehr 91 Jahren zu ihrer Reise gestartet sind. Aus heutiger Sicht sind die von Stach und Halina bezwungenen Widrigkeiten wohl kaum vorstellbar.



Etwas gedankenversunken genieße ich die Pause in diesem sehr gepflegtem Ambiente mit eher gehobenem Publikum. Ein Paar, Mitte vierzig, reißt mich aus meinen Gedanken und ist am Gespann interessiert. Er ist im letzten Jahr in Vietnam auf einer inländischen 125er von Hanoi nach Saigon gefahren…


Nach der Weiterfahrt stellt sich derweil für mich eine kleine aktuelle Widrigkeit ein. Beim Bremsen klingt es vom Seitenwagenrad metallisch und die Bremswirkung ist mäßig. Der Bremsbelag der Seitenwagenbremse scheint nicht mehr der Beste zu sein. Ich fahre das Gespann nun seit knapp 20.000 km und nach der Reise ist bereits eine Inspektion vorgesehen. Mit dem Bremsverschleiß habe ich nicht gerechnet. Aufgrund der Einbausituation mit dem Seitenwagenschutzblech ist eine einfache Sichtkontrolle nicht möglich. (Anmerkung: Der Verschleiß ist den ersten Monaten geschuldet, in denen ich viel mehr gebremst habe als es mittlerweile der Fall ist. Ferner verfüge ich nun über so einen Zahnarztspiegel, mit dem eine Sichtkontrolle über Eck möglich ist.)

Wieder ein wenig frequentierter Campingplatz.




Ich habe Glück. Die einzige Werkstatt weit und breit liegt direkt auf meinem Weg, in Elk. Da heute Sonntag ist, quartiere ich mich in Elk auf dem Campingplatz ein und verbringe den Abend im gegenüberliegenden Beach-Club. Meine E-Mail, in der ich mein Erscheinen für Montagmorgen ankündige, wird prompt beantwortet und Michael sagt mir Hilfe zu. Der Fehler ist dann am nächsten Morgen auch schnell identifiziert. Die Bremsbeläge sind verschlissen. Passende Beläge hat er leider nicht am Lager, sagt aber den Erhalt für Dienstagmorgen zu. Ich solle einfach um 0800 auf der Matte stehen. Ich fahre zum stadtnah gelegenen Campingplatz retour und spaziere und flaniere für den Rest des Tages durch die Geburtsstadt von Siegfried Lenz.





Am nächsten Morgen läuft alles wie verabredet - und absolut fachgerecht. Ich kann die Werkstatt wirklich empfehlen. Während Michael die neuen Bremsbeläge montiert, führt mich der Firmeninhaber durch seinen Betrieb. Unter dem eigenen Label Red Mamut werden hier vor Ort Taschenlösungen für Touren- und Endurofahrer gefertigt. Wie schön zu sehen, dass gute Dinge auch noch in Europa (statt in Fernost) gefertigt werden. Kurze Zeit später setze ich meine Fahrt fort.




Bootswechsel


Es sind nur etwas über 100 km zum Tagesziel, dass ich dann auch zügig ansteure. Bei der winterlichen Recherche bin ich auf eine familiengeführte Pension gestoßen, die zusätzlich Plätze für Zelte bereithält und Kajaks vermietet. Kajakfahren in Masuren. Mir war sofort klar, dass dies ein Ankerpunkt meiner Reise wird. Und so habe ich mich bei Julia, der Betreiberin, für ein Zeitfenster angemeldet und mir ein Boot reservieren lassen.
Nach einer nahezu herzlichen Begrüßung baue ich mein Zelt auf dem terrassenartigen Hanggrundstück auf. Mit Seeblick. 




Julias Bruder hat bereits ein Boot vorbereitet und wenig später steche ich bereits in See. Welch ein Genuss. Auch wenn ich nach Möglichkeit auf Landstraßen unterer Ordnung unterwegs war, herrscht hier auf dem Wasser natürlich eine ganz andere Ruhe.




Irgendwie passt alles paradiesisch zusammen. Julia serviert mir morgens ein fantastisches Frühstück und ich genieße am Abend ihre landestypische Kochkunst. In der rustikalen Gästestube finde ich deutschsprachige Bücher, in denen ich abends blättere. 



Julias Mutter spricht noch etwas Deutsch mit ostpreußischem Akzent. Und Julias Bruder berichtet von seinem Leben in Großbritannien und Asien, bevor ihn die Corona Pandemie zurück in seine Heimat trieb.



Und ich genieße den Bootswechsel und die rhythmische Bewegung beim Kajakfahren. Für mich ein wirklicher Sehnsuchtsort, an dem die Zeit auch gerne mall stillstehen darf. 



Am letzten Paddeltag entdecke ich am Hang eines Uferabschnittes ein auffallend neues und luxuriöses Anwesen. Auf dem zugehörigen Steg werkelt eine Person. Ich denke mir, dass dies die Chance ist, ein Foto von mir im Kajak schießen zu lassen und paddele in Richtung Steg. In Sprechweite angelangt, frage ich freundlich auf Englisch nach der Fotografiermöglichkeit. 


Der Mann, etwa in meinem Alter, dreht sich um und mustert mich. Um dann nach kurzem Zögern in bestem Ruhrpott-Slang zu antworten, dass er es mit Englisch nicht so habe, er aber Deutsch anbieten könnte. Ich muss lachen.
Natürlich schießt er die gewünschten Fotos. 



In der Folge sitzen wir noch eine ganze Weile zusammen und er berichtet aus seinem Leben. Den wesentlichen Teil seiner Kindheit hat er in Gelsenkirchen verbracht, keine 20 km von dem Ort entfernt, an dem ich zur gleichen Zeit aufgewachsen bin. Aktuell lebt er mit seiner Frau in Dortmund, wo er bis zum Renteneintritt arbeiten will. Und dann geht es zurück in die Heimat nach Masuren. Zu diesem Zweck haben seine Frau und er über viele Jahre dieses Anwesen auf einem alten Familiengrundstück aufgebaut. Wir sitzen am Steg und es entwickelt sich ein sehr intensives und total interessantes Gespräch (dessen Inhalte natürlich nichts im www verloren haben).


Es zeigt sich mal wieder, dass es am besten gelingt, dem Zufall eine Chance zu geben, wenn man mit offenen Sinnen unterwegs ist. Dieser Paddeltag und diese Begegnung stellt in gewisser Weise den Höhepunkt der Tour dar. Es schließt sich ein Kreis zu meinen Fragen und zu meiner Motivation zu lesen und zu erfahren. Und erfahren habe ich, in jeglichem Sinne des Wortes, so einiges auf dieser Tour, wofür ich dankbar bin.



Epilog


Ein Höhepunkt lässt sich bekanntermaßen nicht toppen. Zu Hause bin ich allerdings auch noch nicht. So setze ich meine Tour fort und unternehme noch einen Abstecher nach Bornholm. Dafür gibt es drei simple Gründe. Ich war noch nie auf Bornholm. Mich lockt, mit den Schauplätzen der Bornholm Krimis von Pernille Boelskov, ein weiterer literarischer Wegpunkt. Und dann ist da noch dieses Treffen des Guzzi Klub Danmark. Gründe unterwegs zu sein, gibt es immer genug…




Mit der Fähre von Gdynia in Karlskrona angekommen, geht es auf dem Landweg nach Ystadt und von dort mit der Fähre nach Bornholm.


In der Kommissar Wallander Stadt, Ystadt. Gemäß der Romanreihe von Henning Mankell






Diese Guzzi aus den 1930er Jahren gehört dem Presi des dänischen Clubs.




Oldtimer-Treffen auf Bornholm





Impressionen von Bornholm












Camping auf Bornholm. (So, wohl nur in der Vorsaison möglich....smile.)



Gepäckträger als Beistelltisch. Die große Tafel Marabou passt perfekt darauf.


Leserreise oder Kurzgeschichtensammlung? Leserreise finde ich treffender, da Kurzgeschichten isoliert und zusammenhangslos für sich stehen und zu deuten sind. Meine Reise macht mir wieder einmal klar, wie sehr die Dinge verwoben sind und voneinander abhängen. Und wie sehr die Kenntnis der Vergangenheit erforderlich ist, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten.

Abends vor dem Zelt zu sitzen und auf's Meer schauen zu können, ist der perfekte Tagesabschluss.


Andreas Thier, September 2024