Grisocomodo
  Motor-Rad-Reisen

The Great Mile 2019

Die etwas andere Motorradtour


Prolog

Ein ruhige, satt grüne wellige Landschaft im Norden Englands. Ein schmales mäandrierendes Flüsschen, gesäumt von kleinen Felsblöcken und dichtem Grün. Noch dichter sind die Hecken, welche die Straßen säumen, die sich wiederum mit dem Fluss um die Wette biegenden. Das zarte Plätschern des Wassers betont die Stille.

Aus der Ferne nähern sich sonorig heisere Motoren. Leicht bollernd, bei Rücknahme der Drehzahl beim Herunterschalten und mit einem bösen Grummeln beim Beschleunigen und Hochschalten. Gewissermaßen das akustische Klangbild der kurvenreichen Landschaft. Minimal zeitversetzt wiederholt sich das melodische Muster vier Mal.

Mit zunehmender Annäherung wird die Darbietung differenzierter. Die Phasen des Bremsens und Beschleunigens sind dabei keineswegs gleichartig. Der Takt der motorischen Melodie wird von den Radien der Kurven bestimmt.
Nicht nur diese variieren erheblich, auch die Vorausschau. Enge Linkskurven (Linksverkehr!) mit meterhohen Hecken reduzieren die vorausschauende Sichtweite derart, dass man wahrlich nicht mehr von Sicht-WEITE sprechen kann. Es erfordert schon ein gewisses Maß an Entschlossenheit, Fahrpraxis und Gottvertrauen, hier mit einer ordentlichen Performance voran zu kommen. Mal mit einem Spiegel oder der Schulter mit einer Hecke auf Tuchfühlung zu kommen darf dabei ebenso wenig irritieren, wie sich plötzlich in einer uneinsichtigen Kurve verschlechternde Straßenbeläge.

Und Performance scheint von Nöten zu sein, so wie die vier Fahrer ihre Maschinen durch die Kurven pilotieren. Die dichte Folge erinnert fast an eine Kunstflugstaffel. Neben dem Gottvertrauen ist ebenso unbedingtes Vertrauen in die Fahrkünste des Vordermanns erforderlich…


Markus on the road


Viele Kilometer später. - Die Gruppe hat sich in einem endlosen Kurvenswing aus der Waldregion in die baumlosen Berge vorgearbeitet. Die schmalen Straßen führen an Hängen entlang, queren Täler, folgen Hochebenen und gipfeln auf Passhöhen. ‚Schmal‘ meint wirklich schmal. Teilweise trennen die Fahrbahnränder vielleicht drei Meter. So kommen die Vier auch hintereinander zu stehen, als der Vordermann vor einer zweifelhaften Weggabelung stoppt, um die Fahrtrichtung zu klären. Schon zwei Motorräder nebeneinander würden unweigerlich eine Straßenvollsperrung bewirken. Nichts, was man an unübersichtlichen Stellen braucht.
Der Führende entledigt sich seiner Handschuhe, um das in einer wasserdichten Hülle steckende und am Lenker montierte Smartphone samt Navigationsprogramm bedienen zu können. Der Folgende kann die Handschuhe anbehalten. Sein motorradspezifisches Navigationsgerät ist damit bedienbar. Da das Gerät nicht an die Bordelektrik angeschlossen ist, verabschiedet sich allerdings allmählich der Akku. Es wird gezoomt und geschoben, eine abschließende Erkenntnis ergibt sich nicht. Der Erste schaut sich zum Zweiten um. Schulterzucken bei beiden und hilfesuchendes Umschauen zum Dritten. Er deutet per Handzeichen nach rechts. Zustimmendes Nicken, Blicke nach vorn, einkuppeln und röhrend wird die rauschende Fahrt fortgesetzt - nach rechts.

Die Lösung in diesem Fall lautet ‚Old School‘. Die Papierkarte im Kartenfach der Tanktasche des dritten Fahrers ermöglicht eben eine schnelle Übersicht – auf einen Blick. Ohne Zoomen, ohne Schieben.

Bemerkenswert ist das das Zusammenspiel und die schnelle Entscheidung. Mit Vertrauen untereinander und ohne Diskussion. In der Tat wurde nicht ein Wort verloren. (Wozu man die Maschinen hätte abstellen und absteigen müssen, was jedes Mal auch Zeit kosten würde.)  Diese besondere Dynamik macht aus vier Motorradfahrern ein Team. Es geht nicht ums Recht haben und nicht um das Navigationsmittel an sich. In diesem Fall half die analoge Straßenkarte, in dem meisten anderen Fällen ist die digitale Navigation weit überlegen. Es geht um das Zusammenwirken und das Erkennen der vorteilhaftesten Variante. Natürlich verfahren sich die Vier auch mal. Aber sie verfahren sich gemeinsam, ohne nachträgliche Besserwisserei Einzelner. Es geht darum zusammen eine Aufgabe zu absolvieren. Eine Aufgabe, die sich über 1.250 Meilen (rund 2.000 km) hinzieht, bei der Niemand verloren gehen soll und die ohne eine gewisse Performance nicht zu lösen ist. Ein Auge soll dennoch auf die Sicherheit schielen, die nicht unwesentlich von dem Zusammenspiel der Teamfahrer abhängig ist.


Die Aufgabe

Um was geht es hier eigentlich? Und wieso ist hier von einem Team die Rede? Gerade dieses Team-Ding steht ja nahezu im Widerspruch zu den Berichten auf Grisocomodo und damit diametral zu meiner Auffassung über das Motorradreisen an sich….


morgendliche Startvorbereitungen


Aber es ist ja schließlich auch keine Reise, sondern eine Rallye. Die ‚Malle Rally‘ um genau zu sein. Die Sache mit dem fehlenden e hinter dem y mag falsch aussehen, ist im britischen Englisch aber richtig. Völlig falsch verstanden wird hingegen Malle. Nein, die Rally findet nicht auf der beliebten, fast deutschen, Urlaubsinsel statt, sondern in Großbritannien.


Rally Route - goldene Linie  /   An-,Abreise - rote Linie


Der Begriff Malle ist dem Französischen entnommen und bedeutet so viel wie Übersee- oder Schrankkoffer. Also in jedem Fall ein nützliches Behältnis für die sieben Sachen auf Reisen. Robert Nightingale ist der Kopf und gute Geist der Rally. Zusammen mit seinem Cousin Jonny Cazzola betreibt er das Label Malle London. Darunter werden super robuste (und super teure) klassische Taschen für Motorradreisende vertrieben, gefertigt aus schwerem, schottischen, gewachsten Baumwolltuch. Ergänzt wurde die Linie jüngst durch nicht minder widerstandsfähige (und teure) Motorradjacken (deren rotes, mit Naturfarben gefärbtes, Innenfutter abfärbt).

Roberts Motor Bike Events haben mit einer verrückten Art von Gelände Veranstaltung ‚The Mile‘ in einem Schlosspark in Kevington Hall bei London begonnen. Sozusagen der Gipfel ist mittlerweile die Mehrtagesfahrt ‚The Great Mile‘ quer durch Großbritannien. Genau genommen geht es längs durch Großbritannien, nämlich von Lizard Point im südlichsten Südwesten bis zum königlichen Mey Castle an der Nordküste Schottlands. Fünf Tage auf allen Arten von Straßen, mit im Verlauf stark zunehmender Tendenz zu asphaltierten Wirtschaftswegen. Fünf Tage, in denen rund 2.000 km zu absolvieren sind (eben zum Teil auf Wirtschaftswegen!). Fünf Tage, in denen frei zu navigieren ist und in denen die Teammitglieder lernen müssen während der Fahrt miteinander zu kommunizieren, damit niemand verloren geht.

Das Teilnehmerfeld ist auf 100 Fahrer limitiert. Gefahren wird in Gruppen von vier bis fünf Fahrern, die sich entweder als Gruppe angemeldet haben oder die als Einzelanmelder von Robert zu Teams zusammengestellt wurden. Die Motorräder sind so individuell wie ihre Fahrer. Custom Bikes, Alteisen, ganz viel Retro (mit zeitgemäßer, störungsfreier Technik) und wirklich kurioses wie Einzylinder 11 PS Diesel oder Vierzylinder Polizei Kawasaki.


Guzzi Mille GT KM-Stand 340.000  und   Polizei Kawasaki


Die Teilnahmegebühr ist weniger eine Gebühr, als vielmehr eine exklusive Eintrittskarte zu einem wirklich extra ordinären Event. Immerhin inkludiert sie Kost und Logis. Letzteres in luxuriösen Großzelten mit Stehhöhe und allem Schnickschnack, der Glamping von Camping abhebt. Die kleine Zeltstadt erinnert vielleicht etwas an britisches Empire in kolonialer Vergangenheit, was aber irgendwie zum Charakter der Veranstaltung passt. In jedem Fall stehen die Zelte bei Ankunft stets bezugsfertig bereit. (Was im Übrigen nur gelingt, da es zwei Zeltstädte gibt, die umschichtig in den Zielen errichtet werden.)


Zeltstadt


Des Weiteren ist für jeden Teilnehmer ein Malle Duffle Bag mit seiner Startnummer enthalten, der ebenfalls zum jeweiligen Tagesziel transportiert wird, so dass man auf den Etappenfahrten von Gepäck befreit ist. Die Startnummer erleichtert im Ziel das Auffinden der richtigen Tasche.


Rally Duffle Bags


Für Frühstück und Dinner wird von Profis gesorgt, die ihr Handwerk wirklich verstehen. Nach dem Dinner ist das Riders Briefing für den nächsten Tag vorgesehen. Streckeninformationen werden in der Tat erst am Vorabend ausgegeben. Erläuternde Worte von Robert schmücken die kargen Routenskizzen aus, in denen zwar die Checkpoints verzeichnet sind, die sich aber ansonsten von Straßenverlauf und Ortsbezeichnungen eher als irreführend erweisen. Somit ist abends echte Tüftelei angesagt, um die Route für den nächsten Tag herauszufinden und, in welchem Medium auch immer, abrufbar zu präparieren. (Ich bin übrigens der mit der analogen Papierkarte auf dem Tank. Das bedeutet, dass die Karte abends derart mit schriftlichen Einträgen zu ergänzen ist, dass wichtige Ortsnamen und Straßennummern ohne Lesebrille erkennbar sind.)

Beim Start und Ziel, sowie bei den einzelnen Checkpoints, versehen Strecken Marshalls die gruppenweise vorzulegenden Logbücher der Fahrer mit Zeitstempeln. Bei der Malle Rally geht es natürlich nicht um wettbewerbsmäßiges Fahren. Mit Roberts Worten: „It’s all about completion, not competition“ (Es geht um das Ankommen, nicht um ein Rennen.). Dennoch soll am Ende ein symbolisches Gewinner Team gekürt werden.


Checkpoint, Robert (rote Jacke) und Marshall beim Stempeln


Dazu haben die Marshalls für jeden Streckenabschnitt vorab eine geheim gehaltene Idealfahrzeit festgelegt. Für das Abweichen gibt es pro Minute einen Strafpunkt. Das Team mit den wenigsten Punkten wird als Gewinner gefeiert. – Von den anderen Teilnehmern. Somit feiern alle zusammen.

Damit sind dann auch die wesentlichen organisatorischen Rahmenbedingungen dargestellt. Zum Schluss noch eine Empfehlung von Robert: „The key to a successful Rally is to start  drinking early, be in bed by 11, and get to the start line on time.“ (Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Rally besteht darin, früh mit dem Trinken anzufangen, um 23:00 im Bett zu sein und am nächsten Morgen pünktlich an der Startlinie zu stehen.)


Team-Start


In einer beeindruckenden Geräuschkulisse warmlaufender, meist zweizylindrischer, Motoren starten die Gruppen morgens im zwei Minuten Takt. Die Ausschreibung verspricht neben einer interessanten Streckenführung, außergewöhnliche Tagesziele und Übernachtungsstätten. Lassen wir uns überraschen. 


Wo man bleibt

Um es vorweg zu nehmen, die Erwartungen werden nicht nur bei weitem übertroffen, sondern das Erlebte steigert sich auch noch von Tag zu Tag.

Die bis ins 15. Jahrhundert zurückreichende Rosuick Farm im südlichsten Cornwall ist Sammelpunkt und Ausgangposition für die Rally. Die Zeltstadt steht bereit und über den Nachmittag verteilt treffen die Teilnehmer vereinzelt oder in Kleingruppen ein. Interessante, kuriose und aufregende Maschinen stehen auf der Farm zwischen wunderbar alten Gemäuern. Die Teilnehmer kommen in Kontakt, es wird ordentlich gefachsimpelt.


Alles ist top organisiert. Roberts Mannschaft trägt weiße Malle Rally Overalls, so dass wir Teilnehmer immer schnell einen Ansprechpartner für Organisatorisches finden. Gerade am Vorabend der Rally ist der Bedarf natürlich besonders groß. Irgendwann hat jeder sein Rally Kit, bestehend aus Logbuch, Startnummernaufkleber, Duffle Bag, T-Shirt, Trinkflasche und Trinkbecher und die individuelle Vorbereitung geht weiter.


Benzingespräche


Die Rosuick Farm bietet Cottages für Urlaub, Hochzeiten oder andere Events für Gesellschaften an. Somit ist dafür gesorgt, dass Breakfast und Dinner mit einem festen Dach über dem Kopf stattfinden können. Und Sanitäranlagen gibt es ebenfalls in (fast) ausreichender Anzahl. Die richtigen Übernachtungsplätze für die Rally ausfindig zu machen, ist bestimmt eine eigene Herausforderung. Immerhin müssen Zelte für 100 Teilnehmer plus Veranstalter Team und über 100 Motorräder sowie einige Support Fahrzeuge untergebracht werden. Und irgendwie sollen die Teilnehmer bei den Mahlzeiten im Trockenen sitzen können, immerhin sind wir in Großbritannien. Die Wahl war jedenfalls immer vorzüglich. Und es gab auch immer (fast) ausreichende Sanitäreinrichtungen.


Ergänzend zu gemütlichen gastronomischen Landhäusern, sind Kelburn Castle und Torridon Estate besondere Highlights. Aber selbst in den Landhäusern ist das abendliche Ambiente außergewöhnlich. An einem Abend geht es nach dem Dinner und dem Riders Briefing in die Bar. Die beiden Mittzwanziger Marshalls Henry und Kane berichten von ihren Reisen. Unabhängig voneinander sind sie auf ihren Motorrädern (Ducati Scrambler Desert Sled, Triumph Bonneville) um die die Welt gefahren. Gestandene ergraute Biker lauschten aufmerksam fasziniert wie kleine Kinder beim Weihnachtsmärchen.


Kelburn Castle liegt isoliert nahe dem Südufer des Firth of Clyde. Die Geschichte des Herrenhauses reicht ins 12. Jahrhundert zurück und 1971 wurde es in die höchste Kategorie der schottischen Denkmallisten aufgenommen. Und der Earl erlaubt uns im Castle zu speisen, in einem Saal mit langer Ahnengalerie. Nach einem Whisky Tasting mit dem rührigen Repräsentanten der Glenlivet Destillerie, klingt der Abend bei mediterranen Temperaturen im Garten des Castle aus. – Mehr geht nicht!


Kelburn Castle


Foto folgt weiter unten
Whisky Tasting


Auf Terridon Estate empfängt uns Earl Felix. Felix ist in Wirklichkeit kein Earl, aber irgendwie wird er von uns allen so genannt. Felix ist Deutscher und seit einem Vierteljahrhundert in Großbritannien. Wir vermuten, dass er wahrscheinlich keine ganz kleine Nummer im Musikgeschäft war, bevor er sich mit seiner Frau in ihre schottische Heimat zurückgezogen hat. Das Herrenhaus ist beeindruckend. Das B&B Business scheint eher eine Art Nebenerwerb zu sein. Über sich sagen sie u.a. „…singers, passionate fiddler, food and wine lovers…“. Und das sagt wiederum eine Menge über den wundervollen Abend aus. Nach dem Barbeque spielen sie im Freien auf… Gegen die Myrriaden von beißenden Minimücken werden Lagerfeuer entfacht. Da dies nur mäßig hilft, ignorieren wir die Biester einfach. Es ist der Abend vor der letzten Etappe. Alle sind gut drauf. Die Stimmung wird immer ausgelassener. An diesem Abend schafft es wohl keiner um 11 im Bett zu sein.


Torridon Estate


Torridon Estate




Wo es lang geht

Angesichts der hinter uns liegenden Strecke muss man die abendliche Ausgelassenheit verstehen. Die vor uns liegende letzte Etappe führt zwar wieder über wirklich schmale Straßen (Single Roads mit Ausweichbuchten), aber sie ist technisch nicht hoch anspruchsvoll. Was dann genügend Muße ermöglicht, die unglaublich schöne Küstenlandschaft während der Fahrt zu genießen. Zudem ist die Etappe die zweit Kürzestete – nur 399 km. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass die Malle Rally, bei allem landschaftlichen Genuss, keine Blümchenpflücker Tour ist.

Die erste Etappe ist die Kürzeste. Robert als leader oft he pack führt das geschlossene Teilnehmerfeld über Wirtschaftswege von der Rosuick Farm nach Lizard Point zur Startlinie. Allein das ist schon ein beeindruckendes Ereignis. Der kleine, stark abfallende, Parkplatz am Lizard Point ist eigentlich viel zu klein für 100 Motorräder. Aber alle sind entspannt, kein Moped fällt um und alles findet sich irgendwie. Finden müssen sich nun in dem Wuling auch die Teammitglieder, damit sie in zwei Minuten Abständen starten können.


Start Lizard Point


Wir sind Team #14 und können bis zu unserem eigenen Start das Geschehen verfolgen. Mopeds teamweise hinter der Startlinie aufreihen, Logbücher bereithalten, Motoren warmlaufen lassen, Brille aufsetzen, Zeitstempel ins Logbuch, Logbuch verstauen.


Bon voyage!


Laut Roadbook haben wir 211 Meilen vor uns. Wir - das sind: Roger, Triumph Bonneville (UK), Scott, SWM (UK), Andrea, Fantic Caballero (I), Markus, Honda Afrika Twin (D), Andreas, Ducati Scrambler (D). Fünf Burschen, mehr oder wenig fortgeschrittenen Alters, die sich vorher nie begegnet sind, rollen an die Startlinie und haben zunächst die große Herausforderung, zusammen zu bleiben und irgendwie die Checkpoints sowie das Ziel zu finden. Dass während der Fahrt unsere Kommunikationsmöglichkeiten beschränkt sind, braucht eigentlich nicht extra erwähnt zu werden.

Die Startflagge sinkt, wir donnern los. Entlassen auf die Landstraßen im grünen Cornwall sind wir plötzlich mitten in der Rally. Der erste Checkpoint liegt rund 150 km entfernt. Das hat ein gewaltiges Potential für Missverständnisse und zum Verfahren. Die ersten Kilometer sind echt wie eine Maschine Buntes. Trotz des Startzeitabstandes kommen die Teams durcheinander. Man versucht sich die eigenen Teammitglieder einzuprägen und im Auge zu behalten - auch und vor allem, wenn noch jemand aus dem Team hinter einem ist. Schließlich soll keiner verlorengehen. Mit meiner flinken Ducati werde ich zum shepherd dog (Hirtenhund), wie mich die anderen später taufen, und kann ich kann somit in unserem kleinen Fahrerfeld zwischen ganz hinten und ganz vorne vermitteln. Denn aufgrund der kurvenreichen Strecken kann der Führende eher selten den Letzten per Rückspiegel im Auge behalten.

Das eigentliche Problem entwickelt sich, wider der Vermutung, allerdings vorne. Ein Teammitglied geht gewissermaßen nach vorne heraus verloren. Während sich vier von uns relativ fix aufeinander einstellen, fährt der in London lebende Italiener Andrea, auf seiner Caballero, als sei der Teufel persönlich hinter ihm her. Fahrtechnisch könnte wahrscheinlich nahezu jeder von uns Vieren ebenso so schnell fahren. Aber wir definieren unseren Risiko- und Sicherheitslevel deutlich anders als Andrea. Er fährt sehr, sehr auf des Messers Schneide und fügt sich in keiner Weise in das Team ein.

Zu Viert erreichen wir den ersten Checkpoint, wo Andrea natürlich bereits wartet. Vielleicht hat uns vier gerade diese Erfahrung viel schneller zusammenwachsen lassen als andere Gruppen. Nach einiger Verhandlung haben wir Andrea in einer anderen „schnellen Gruppe“ untergebracht. Und alle sind zufrieden.


First Checkpoint


Die Strecke setzt sich auf Straßen niedrigerer Kategorie fort und der Verkehr nimmt deutlich ab. Durch das Innere Cornwalls geht es vom English Channel zum Bristol Channel. Die Straßenführung und die Kurven sind fantastisch. Wir schwingen uns immer besser aufeinander ein und kommen flüssig voran. Die Handzeichen für Tanken, Pinkeln, Fotostopp, falsche Richtung standardisieren sich allmählich.

Der letzte Checkpoint kurz vor dem Ziel ist wie eine Belohnung für den anstrengenden erstenTag. Auf der Sohle eines mäandrierenden Kalksteincanyons schlängeln wir uns durch die bizarre Landschaft. Eigentlich sind wir weitestgehend ohne streckenfressendes Verfahren über die Etappe gekommen. Als wir das Tagesziel Aldwick Estate erreichen, liegen wir dennoch bei 238 Meilen (385 km) statt bei den angegebenen 211 Meilen. Damit waren wir trotzdem noch einigermaßen zielstrebig. Manche Teams legen über 250 Meilen zurück.

So wird das Fahren und Navigieren nun quasi unser daily business. Über den Bristol Channel geht es nach Wales und durch das Landesinnere weiter nordwärts bis an die Irische See. Für mich schließt sich quasi ein walisischer Kreis, da ich vor Jahren mit meiner Guzzi dem Küstenverlauf gefolgt bin. Der Snowdonia National Park mit dem 1085 m hohen Snowdon ist von beeindruckender rauer Schönheit. Wir passieren ein kleines Berghotel, welches Edmund Hillary als Stützpunkt für das winterliche Training und für Ausrüstungstests für die Everestbesteigung gedient hat.


Schön, hier unterwegs zu sein.


Das urbane Liverpool ist ein krasser Gegensatz dazu. Wir nehmen sehr dankbar die Führungsarbeit von Roger an, der sich in Liverpool auskennt. Das Verkehrsaufkommen ist enorm und es staut sich vielerorts. Markus und ich müssen uns sehr an die britische Fahrweise gewöhnen. Es ist unglaublich, mit welcher Gelassenheit es Autofahrer zulassen, dass sich Motorradfahrer forsch durch einen Stau winden. Wenn es der Raum zulässt, machen sie sogar noch extra Platz. Das wäre in Deutschland undenkbar. Ohne Roger wären wir wohl halb verloren und noch viel länger unterwegs gewesen. Und das hätte sich auf der mit 515 km  längsten Etappe bei der kniffeligen abendlichen Ansteuerung des Tagesziels unangenehm bemerkbar gemacht.


Über die Yorkshire Dales zum Lake District wird die Landschaft immer gebirgiger und aufregender, bis sie dann in den Cumbrian Mountains ihren Höhepunkt erreicht. Und das sind dann auch fahrerische Höhepunkte. Die Straßen sind allenfalls noch Sträßchen mit kurzen Ausweichbuchten. Der Hard Knott Pass wurde im 2 Jahrhundert von den Römern erbaut und ist mit 30 (in Worten dreißg) Prozent Steigung eine der steilsten Passstraßen in Großbritannien.

Viele kleine Serpentinen schlängeln sich den Berg hinauf. So etwas habe ich bisher weder gesehen, noch bin ich so etwas gefahren. Die scheinbar einzig mögliche Taktik lautet: erster Gang, eine gute Linie und keinesfalls anhalten (und um Himmels Willen nicht hochschalten). Nach den ersten Haarnadelkurven merke ich, dass es funktioniert und es macht richtig Spaß. Ich bin unglaublich froh auf der leichten, wendigen und super spritzigen Ducati Scrambler unterwegs zu sein. Ich ziehe meinen Hut vor den Fahrern, die ihre Dickschiffe da rauf und auch wieder runter geschafft haben. So sind beispielsweise auch alte  V7 Guzzis mit Trommelbremsen im Fahrerfeld.


Impressionen
Foto Malle London


Schottische Gebirgsstraßen


Bald ist die schottische Grenze erreicht und in Gretna Green wird an einem Checkpoint eine verdiente Pause eingelegt. Geheiratet hat aus dem Rally Tross niemand, soweit wir das mitbekommen haben. Die Fortsetzung der Strecke ist easy going. Die Landschaft ist großartig, das Fahren total entspannt und so cruisen wir dem Firth of Clyde entgegen. Mit Erreichen des Firth ist es nicht mehr weit zu dem besagten Kelburn Castle, so dass nach spontaner Beschlussfassung ein Bad im Meer genommen wird.


 Checkpoint in den Bergen


 Wieder an der Küste



 Glenlivet Whisky Tasting auf Kelburn Castle
(Das Foto gehört weiter nach oben, allerdings spielt mir hier der website editor einen Streich, den ich nicht auflösen kann. Also bleibt das Foto hier, an dieser Stelle.)


Der Yamaha Professional schaut doch irgendwie interessiert auf Roberts Triumph :)


 

 traumhafte Route in Schottland


 Badetag


Von den Lowlands geht es in die Highlands. Und die warten mit Highlights auf. Loch Ness, Ben Nevis (höchster Berg Schottlands), Caledonian Channel und der berühmte Applecross Pass, von dessen Sattel der Blick auf die Isle of Skye fällt. Die Aussicht ist grandios. Weil die Landschaft sensationell ist und vor allem weil das Wetter gut ist und die Sicht überhaupt erst ermöglicht. Wir haben bisher rund 1.750 km hinter uns gebracht und noch nicht einen Regentropfen erlebt. Hier scheint die Sonne und die Temperaturen liegen wohl über 28 Grad Celsius. Die Handvoll Fahrer unter den Teilnehmern, die nicht auf der britischen Insel leben munkeln bereits, dass das mit dem schlechten Wetter in Schottland wohl so ein Gerücht sei, um Touristen fern zu halten.


 


wunderbare Küstenlandschaft


 

Die letzte Etappe der Rally führt uns entlang der West- und Nordküste und entspricht der North Coast 500 Strecke, welche auch als Route 66 Schottlands bezeichnet wird. Die dünne Besiedelung und der Charme der wenigen kleinen Ort mögen vielleicht in gewisser Weise ähnlich sein. Den letzten Checkpoint in Durness nutzen wir, wie die meisten, für eine ausgedehnte Pause. Manch einer schaut wehmütig auf die Weite des Meeres und lässt die Gedanken fliegen. Die Bucht mit dem feinen Sandstrand lädt bei dem hochsommerlichen Wetter ohnehin zum Verweilen ein. Aber wahrscheinlich verzögert sich der Aufbruch bei den meisten, weil es der Aufbruch zu den letzten Kilometern der Malle Rally ist.


 Sommer in Schottland...




Mey Castle

Nur noch 90 Kilometer trennen uns noch von Mey Castle, dem Ziel der Rally. Das royale Schloss ist wahrlich ein würdiges Ziel. 1952 kaufte Königin Elizabeth das Schloss. Sie stammte aus Schottland und sehnte sich möglicher Weise hin und wieder nach der Abgeschiedenheit. Es war die einzige Immobilie, die ihr je selbst gehörte. Ihrem testamentarischen Willen folgend wird das Schloss von einem Trust verwaltet. Wenn es nicht gerade von Mitgliedern der königlichen Familie genutzt wird, Prinz Charles ist für gewöhnlich eine Woche im August auf Mey Castle, ist es der Öffentlichkeit zugänglich.

Aber ausschließlich der Malle Rally wird das Privileg eingeräumt, über den königlichen Weg auf die Liegenschaft und auf den Schlosshof zu fahren. Der Öffentlichkeit wird ansonsten nur der Zugang per Pedes über einen Seitenweg gestattet.


 Sie haben ihr Ziel erreicht.


 Team #14: Scott, Markus, Andreas, Roger


Das ist großes Kino. Wir Vier kommen geschlossen als Team nach 2.237 km vor dem Schloss an. Und um ehrlich zu sein, ist es schon ein bisschen ein Gänsehaut Gefühl. Ehrlich gemeinte Händedrücke, Schulterklopfen und herzliche Umarmungen werden ausgetauscht. Vor 90 Kilometern sind wir aufgebrochen, um mit einem Höchstmaß an innerer Zufriedenheit das Ziel zu erreichen. Und irgendwie auch, um die Aufgabe zu beenden. Aber dieser Aufbruch geht vielleicht deutlich über das Ende der Rally hinaus. Erfahrungen, Eindrücke und ein nicht für möglich gehaltenes Miteinander haben mir persönlich den Horizont erweitert und geben Raum für neue Ideen und Touren, vielleicht auch in neuen Konstellationen…


 Ein letztes Mal zusammen Parken


 Die legendäre 850er....



 Abendstimmung am Meer


Mit der abendlichen Party und Siegerehrung findet die Malle Rally ihr offizielles Ende. Am nächsten Morgen fahren wir aber noch zusammen zum nahegelegenen John o’Groats, dem nördlichsten Punkt der britischen Insel, bevor sich unsere Wege verlaufen.


 John o'Groats ist Pflicht



Wer dabei war

Das alleine würde Bände füllen. Nicht zutreffend ist das Vorurteil, dass es sich ausschließlich um ergraute Herren mit dickem Portemonnaie und dicken Maschinen handelt. Natürlich sind sie auch dabei, aber eben nicht ausschließlich. Zumindest die Altersverteilung sorgt eindeutig  für breitere Streuung. Ein paar Sesterzen muss man für den Spaß allerdings schon über haben. Die Menschen und ihre Vita basieren auf einer bunten Vielfältigkeit. Während es tagsüber für rund zehn Stunden nur um eines geht, sorgt das breite Spektrum der Teilnehmer für äußerst interessante abendliche Gesprächsrunden.


 Alle Teilnehmer sind mit einem Lächeln unterwegs...


 ...und mit einem passenden Motto  :)


Außergewöhnlich habe ich in jedem Fall die Stimmung empfunden. Zu jeder Zeit, an (fast) jedem Ort (außer manchmal bei den Sanitäranlagen) waren nur zufriedene Gesichter zu sehen und alle waren irgendwie total tiefenentspannt. Das schreibe ich vor allem den gefühlt zu 95% britischen Teilnehmern zu. Ich schätze diese tolerante und ausgewogene Art des Umgangs miteinander sehr. Diesen Bereich der britischen Mentalität finde ich äußerst angenehm. Gespickt mit etwas Kauzigkeit und der Fähigkeit über sich selbst zu lachen, kommen wunderbare Gespräche zu Stande.

Beispielsweise entdeckte ich auf dem Hof von Earl Felix ein uraltes Moped, welches ich für einen Scheunenfund halte. Bis sich ein Typ in Tweed Jacke und Tweed Kniebundhose zu mir gesellt. Er ist mit seiner Rudge auf Tour und übernachtet schlichtweg auf dem Torridon Estate. Zufälliger Weise in der Nacht, in der der Rally Tross einfällt. Wie wir so vor seiner Rudge stehen, frage ich ihn, ob es aufgrund der Mücken und des Straßenstaubes nicht besser wäre, wenn sein auf dem Lenker festgeschnallter Teddy nicht eine Brille tragen würde. Er überlegt, ob es nicht wirklich eine gute Idee sei und ob dies vielleicht der Grund dafür sein könnte, dass sein Teddy tagsüber dreimal abgesprungen ist. Und so philosophieren wir bestimmt eine Viertelstunde über das Motorradfahren mit Teddy und Ansätze, die es für den Burschen behaglicher und sicherer machen könnten.


 Rudge aus den 1930er Jahren


 Teddy aus den 1930er Jahren


Nicht vergessen werden dürfen an dieser Stelle Mastermind Robert und sein Team. Allesamt haben sie mindestens so viel Blut im Benzin wie die verrücktesten der Teilnehmer. Mit Organisation, Emsigkeit, Präzision, Improvisation und ganz viel Lust sorgen sie dafür, dass die Teilnehmer eine gute Zeit haben. Und sie leben das Thema Motorrad eben selbst. Robert und die Strecken Marshalls frühstücken morgens schnell und brechen dann zu ihren Checkpoints auf – auf ihren Motorrädern.


 Ausgabe der Rally Kit Utensilien auf der Rosuick Farm


 Checkpoin Ceddar Gorge, Kane einer der Weltreisenden als Marshall


(Und das ist etwas ganz anderes, als beispielsweise eine Veranstaltung einer Event Agentur, die mal trendy auf Retro Moped Events setzt und wo die Streckenposten in klimatiserten SUV’s warten, um die Logbücher der Kunden abzustempeln…)


 Auch der Weltreisende Henry verdingt sich als Marshall. Hier seine Ducati Scrambler Desert Sled, mit der er um die Welt gereist ist.



Was bleibt

Gute Erfahrungen im wörtlichen Sinne. Anregungen und Ideen für neue (nicht nur Solo-) Projekte. Und ein guter Draht zu den Team Mates. Die geteilte Wellenlänge hat uns zusammen von Süd nach Nord über die britische Insel getragen. - Um den folgenden Jahreswechsel herum, hat es uns völlig unabhängig von dem Rally Zusammenhang nach London geführt. Es war eine große Wiedersehensfreude und veritabler Spaß, mit Scott und Roger einen gemeinsamen Abend im Pub zu verbringen. Ja, da bleibt was….


 Roger, Scott, Markus, Andreas


Nach insgesamt über 5.000 Kilometern wieder zu Hause.

 

Für ein Fläschchen Glenlivet war noch Platz im Duffle Bag....


Epilog

Wer im Sommer 2020 noch etwas Besonderes für sich und sein Moped sucht, dem sei die Malle Rally in Großbritannien oder - ganz neu - die Malle Mountain Rally von Salzburg nach Monaco empfohlen. 1.500 Meilen in 6 Tagen. Und ziemlich sicher mit einer sehr aufregenden Route. *

Hier gibt es noch Impressionen in Form eines professionellen Filmbeitrages. Einer der beiden Links sollte in jedem Fall funktionieren.


Roberts Film auf youtube

Roberts Film auf seiner Malle London website


* Nachträgliche Anmerkung: Aufgrund der Einschränkungen während der Corona Pandemie wurde die Fahrt erstmalig im September 2022 durchgeführt. Und so ging es auf der Mountain Rally 2022 zu.



Text und Fotos: Andreas Thier, 11/2019