Grisocomodo
  Motor-Rad-Reisen

Harz aber herzlich

Cok tesekkürler Türkisch Sultans ! 


Früher Freitag Abend, sechshundert Meter über Normal Null und angenehme zehn Grad Celsius. Mit dem ihr eigenen Drehmoment zieht die Griso weiter aufwärts aus der Kurve heraus und hinterlässt eine satte, sonorige Tonspur.


Hinter mir liegen etwas über dreihundert Autobahnkilometer mit wechselnden Wetterverhältnissen. Stop and Go im Elbtunnel bei über 26 Grad Celsius nährte Zweifel, ob die Textilkombi inklusive Thermofutter nicht etwas overdressed sein könnte. Eine gute Stunde später im fetten Regen bestätigte sich die Entscheidung, zum Glück nicht in die Lederkombi gestiegen zu sein. Jetzt beim abendlichen Aufstreben der wunderbar kurvigen Bergstraße in Richtung Nationalpark Harz scheint die Kleidungsfrage ohnehin zweifelsfrei geklärt zu sein.


Vor mir, ja was liegt eigentlich vor mir ? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau. Aber ist nicht genau das ein Stück weit der Reiz den das Motorradfahren und –reisen ausmacht ? Wir können oft nur in die Kurve hineinschauen, wissen aber nicht was uns hinter dem Scheitelpunkt erwartet.



Das geografische Ziel liegt ein paar Kilometer südlich von Braunlage in einem engen, bewaldeten Tal und heißt Odertaler Sägemühle, ein kleiner Weiler mit dem Versuch einer Gastronomie, einfachen Holzhausunterkünften, einer Wiese zum Zelten, einem großzügigen Partyblockhaus und der völligen Abwesenheit von jeglichen Nachbarn.



Das eigentliche Ziel sind, wie fast immer auf meinen Touren, Menschen. Der aktuelle Weg führt mich zu einem Motorradtreffen der Türkisch Sultans. Wie kommst Du denn zu einem Treffen türkischer Motorradfahrer, sind die skeptisch klingenden Fragen an den Tagen vor der Abfahrt. Nun, ganz einfach – mit dem Motorrad, wie auch sonst.


Ich fühle mich wirklich herzlich aufgenommen.


Der Motivation wird aber der folgende Sachverhalt gerecht. Seit geraumer Zeit schwebt mir eine Motorradtour in die Türkei vor. Mich interessiert das Land, die jüngere Geschichte und die Gegenwart der Menschen, die die Nahtstelle zwischen Orient und Okzident mit moderner Dynamik gestalten. Das Land mit einem Wirtschaftswachstum, von dem Europa nur träumen kann, hat für mich persönlich eine ungeheuer wichtige Funktion für die Entwicklung des zukünftigen Miteinanders der Kulturen.

Der konkrete Anstoß entwickelte sich Winter während meiner verkehrsentschleunigten Zeit ohne Führerschein. Rechtzeitig mit einem dreiviertel Regalmeter Bücher versorgt, fasziniert mich die Lektüre „Geschichten von 1001 PS – Fotos und Statements aus der Nachbarschaft“ von Klaus Dahms (siehe Tipps/Bücher). Er portraitiert in seiner Reportage jene kleine dynamische Szene unter den 2,5 Millionen Menschen türkischer Abstammung in Deutschland, die die gemeinsame Leidenschaft des Motorradfahrens vereint. Ein Hinweis auf den Verein der Türkisch Sultans führt mich auf die Internetseite und in das Forum der Sultans, in dem ich mehr oder weniger schnell angemeldet bin. Nach Überwindung eines kleinen Sprachproblems lande ich zügig im deutschen Teil des Forums und knüpfe angenehme Kontakte, aus denen eine Einladung zu einem Treffen resultiert. Und die nehme ich gerne an. Neben der eigenen Neugier, treibt mich auch das Verlangen, in der Zeit der unseligen Sarazin-Debatte ein persönliches Zeichen zu setzen. – So komme ich also zu einem türkischen Motorradtreffen.



Nach den letzen langgezogenen Kurven erreiche ich somit die Odertaler Sägemühle und lande mit meiner Guzzi vor dem Anmeldestand, wie Mopedtreffen eben so organisiert sind. Nach ganz kurzer Verwirrung, ob ich denn nicht zu der Handvoll deutscher Motorradfahrer nebenan wolle, bestätige ich, dass ich schon richtig bin und zitiere das Forum. Und schon bin ich drin, werde mit offenen Armen freudig empfangen. Da man nach langer Anfahrt hungrig sei, begleitet mich sofort jemand ins Blockhaus zum Essen und stellt mir ein paar Leute vor. Ich bin echt ein bisschen überwältigt.


Nach dem Essen und dem Zeltaufbau mische ich mich unter das zweiradfahrende Volk. Intuitiv lande ich bei einer Gruppe aus Recklinghausen, meiner Heimatstadt. Ich nehme ein total interessantes Gefühl wahr. Nach nunmehr zwanzig Jahren an der norddeutschen Küste verspüre ich in dem Moment eine Mischung aus exotischer Fremdheit und Heimat zugleich. Wir kennen die gleichen Straßen, die gleichen Stadtteile und sprechen die gleiche Sprache. Menschen aus dem Ruhrgebiet verbindet definitiv mehr als nur der gleiche Lebensraum. Ein besserer Start in den Abend ist kaum denkbar. Klönen, lachen, fachsimpeln und auch ernste Gespräche füllen die folgende Zeit bis Sahin dem Keybord orientalische Klänge entlockt und mit Gesang für ausgelassene Stimmung sorgt. Plötzlich ist eine rauschende Party im Gange, wie ich noch keine erlebt habe. Es wird gesungen, getrunken und getanzt. Bei dem Thema Tanzen können sich die deutschen Männer mit Sicherheit eine Scheibe abschneiden. Dass Tanzen ganz und gar nicht unmännlich ist wird eindrucksvoll und phantasiereich demonstriert. Es wird solo getanzt, als Gruppe oder als improvisierte Zwei-Mann-Performance die nahezu schauspielerischen Charakter hat. Das ist wirklich stark.


Als Zielscheibe internationaler Drogenfahnder sieht sich nächtens der sichtlich verunsicherte Betreiber der Odertaler Sägemühle. Ich erkläre ihm daher von Landsmann zu Landsmann die grundsätzliche Funktionsweise einer Shisha und ihm ist die deutliche Erleichterung ins Gesicht geschrieben.


Bis hin zum Frühstück ergeben sich interessante und aufschlussreiche Gespräche. Ich treffe auch einige der Portrait-Darsteller aus „Geschichten von 1001 PS“. Das ist wirklich das i-Tüpfelchen, schließt sich doch quasi der Kreis von der Lektüre in die Gegenwart des eigenen Erlebens. Ich danke Oktay, Mehmet, Sefai, Sahin, Fatih und Emine stellvertretend für alle anderen, die mich offen aufgenommen haben und die mir einen Einblick in die Szene und in ihr Leben ermöglicht haben.


Kurven kratzen ist das Motto für den Samstag (vor Sonnenuntergang). Ich komme nicht umhin neidvoll einzugestehen, dass dreidimensionale Kurven einfach geiler sind als norddeutsche Flachlandrichtungswechsel. Da ich bisher irgendwie noch nie so richtig im Harz war und er, vom nördlichen Schleswig-Holstein betrachtet, nicht gerade um die Ecke liegt, spendiere ich einem Mineralölkonzern den Profit und mir den freudigen Spaß eine komplette Tankfüllung in würdigen Vortrieb umzusetzen. Einfach nur gut ! Ich grinse unterm Helm im Kreis.

Das Wetter ist nach wie vor wechselhaft mit kräftigen Schauern. Und darüber bin ich ausnahmsweise sogar froh. Vermutlich weist der Harz an sonnigen Sommerwochenenden eine Supersportlerdichte auf, wie sie sonst nur an oberitalienischen Seen zu finden ist. Da die Straßen aber kaum richtig abtrocknen, bleiben die meisten Hochleistungs-Wuthocker in der Garage und der Regen gewöhnte norddeutsche Alltagsfahrer hat die Straßen fast komplett zum eigenen Genuss. Hier sind echte Allround-Qualitäten gefragt. Harz aber herzlich geht es zur Sache. Auch Herrn Michelin dürfte es (wegen dem verstärkten Abrieb) zur Freude gereichen.


An einer 180 Grad Kurve mit dem gefühlten Radius einer 400 Meter Sportplatzrunde erlaube ich mir eine Foto-Pause und beobachte die wenigen Motorradfahrer, die dennoch unterwegs sind. Wenn ich in Physik richtig aufgepasst habe, sollte es exakt eine Linie mit der geringsten Querbeschleunigung geben. Umso interessanter ist es zu verfolgen, mit wie vielen verschiedenen Ansätzen die Mopedfahrer versuchen dieser Linie nahe zu kommen. Wirklich nah wäre natürlich einfach auf der Linie zu fahren, aber manch ein Klapphelmfahrer und Nur-hinten-Bremser muss sich damit begnügen die Linie im Kurvenverlauf nur ein bis zwei (oder auch mehrmals !) zu schneiden. Abenteuerliches erlebt man also nicht nur off-road.


 




Die Ortschaften im Harz wirken auf mich ehrlich gesagt etwas wie gewollt und nicht komplett gekonnt. Irgendwie merkt man der Gegend die ehemalige Zonenrandlage an. Vieles wirkt dauerhaft improvisiert. Um so mehr seien der Tourismuswirtschaft die letzten beiden schneereichen Winter gegönnt. Denn die Natur ist bereits im Sommer beeindruckend. Mit reichlich Schnee ist es bestimmt märchenhaft und es gibt durchaus Möglichkeiten für alpinen Skilauf. Nordischer Skilauf lässt sich bestimmt phantastisch betreiben. Und wie nicht anders zu erwarten, tummeln sich auch hier unsere westlichen Nachbarn, die für ihre Meiereiprodukte berühmt sind. Besonders schmunzelhaft ist es den Sultans zuzuhören, wenn sie sich über die einfallenden Deichbauer amüsieren.


    

Bemerkenswert ist die „Motorradfahrer-Freundlichkeit“. Etliche Gastronomen stellen extra Schilder „Biker welcome“ auf und halten Stellplätze bereit. Da gibt es Naherholungsregionen mit ganz anderer Grundhaltung. Selbst die Blitzanlagen der Verkehrsüberwacher sind konsequent für nur-von-vorne-Fotos ausgelegt. Bei soviel Entgegenkommen ist es doch quasi schon eine Pflicht, sich in der Fotosammlung der Rennleitung zu verewigen.

Das Fahrerlager und der Maschinenpark sind das Ziel des Nachmittages. Es wird gefachsimpelt, geschaut, geschraubt (hoffentlich nichts abgeschraubt) und ausgelassener Schabernack (großer Jungs) getrieben. Wie wir Mopedfahrer eben so sind. Es gibt dabei weiß Gott keine kulturellen Unterschiede. Eine gute Erfahrung.





Kurven schmeicheln ist das Motto für den Samstag (nach Sonnenuntergang). Genauer gesagt kommt es erst gegen Mitternacht dazu. Insgesamt kommt die Party schleppend in Gang. Man sitzt noch lange in wechselnden Grüppchen draußen. Insgeheim befürchte ich schon, dass sich die Jungs am Vorabend vielleicht etwas zu sehr verausgabt haben. Diese Rechnung habe ich aber ohne die Sultans gemacht. Irgendwann gelingt es Sahin die Leute einzufangen und die Stimmung anzuheizen. Es wird getanzt und mitgesungen was das Zeug, besser gesagt die Blockhütte hält. Eine derart stimmungsvolle Party, bei der alle voll mitmachen, habe ich noch nicht erlebt.

Sahin gibt alles und dreht richtig auf. Die Stimmung wird immer ausgelassener. Im Laufe der Nacht kapitulieren die Diepholzer Süßwasser Biker von gegenüber bei dem verzweifelten Versuch, noch irgendeinen Ton ihrer ACDC-Mucke aus der Dose wahrzunehmen. Es ist schlichtweg zu laut - im ganzen Tal. Sie machen das einzig Richtige und wagen sich rüber, allerdings auffallend schüchtern. Ja wirklich schüchtern ! Die harten Biker mit ihrer Lederkutte, die sonst so breitschultrig tun, stehen an der Tür wie die vierzehnjährigen Teenager, die hoffen in die ab-16-Disco eingelassen zu werden. Wieder eine typisch deutsche Rechnung ohne die Sultans. Die Diepholzer werden sofort eingehakt, mit in die Runde genommen und nach kurzer Anlaufzeit haben sie ihre Scheu abgelegt und feiern kräftig mit.






Die Mitternachtsspitze hat nichts mit dem Flackern esoterischer VHS Selbsterfahrungsbauchtänzerinnen, die sich selbst oder ihren Bauch neu erfinden, zu tun. Es ist das pure Feuer schmeichelhafter Kurven. So etwas Faszinierendes habe ich wirklich noch nicht gesehen. Ein sicheres Indiz, dass es noch genug zu entdecken gibt in der Welt.




Die Nacht wird lang, sehr lang. Eine klare Trennung von Party und Frühstück kann nicht wirklich vorgenommen werden. Es scheint eher ein fließender Übergang zu sein. Dennoch gelingt es mir eine kleine Mütze voll Schlaf zu bekommen, um für die Rückfahrt ausreichend fit zu sein.


Auch ein Heimweg ist eine Reise. Natürlich ist die Heimreise keine kapriziöse Langstrecken-Angelegenheit. Dennoch hat sie einen eigenständigen Charakter. Einerseits ist es interessant zu sehen, wie die zahlreichen Moped Harz Besucher vom Berg kommen und sich auf den Verkehrsachsen gen Heimat sammeln. Insbesondere schwingt aber das Erlebte und Erfahrene noch kräftig nach. Beim Dahingleiten über die A7 hängen die Gedanken noch lange bei den Sultans. Die Gespräche waren so unterschiedlich wie die Charaktere. Im Winter habe ich etwas Literatur über die Türkei studiert. Manches findet sich bestätigt und anderes steht im Widerspruch. Aber in jedem Fall haben mir die Sultans einen Einblick gewährt, den man nicht erlesen kann.


Cok tesekkürler (danke sehr) für das wunderbare Wochenende. Dem immer noch skeptischen Leser sei versichert, dass ich einem Sultan auf der Durchreise jederzeit Quartier gewähren werde. Was ich übrigens auch im Forum der Sultans geäußert habe.



Für die letzten Zweifler möchte ich an dieser Stelle noch einmal deutlich machen, dass es sich bei den Türkisch Sultans nicht um einen einschlägigen Motorradclub handelt, der typischer Weise mit kriminellen Machenschaften in Verbindung gebracht wird.
Die Türkisch Sultans distanzieren sich ausdrücklich davon und sind als e.V., also als eingetragener Verein organisiert. Mit Jugendarbeit und Wohltätigkeitsveranstaltungen engagieren sie sich in der Gesellschaft. Wer neugierig geworden ist...


www.turkischsultans.com


(Aktualisierung : Die Sultans sind nur noch über Facebook im Web vertreten. 07/2012)


Durch den Elbtunnel flutscht es dieses Mal reibungslos (ganz im Gegensatz zur Gegenrichtung). An der Autobahnraststätte „Brokenlande“, quasi kurz vor zu Hause, kommt noch einmal richtiges Reiseflair auf. Unter dem Schutz des Tankstellendaches sammelt sich eine kleine internationale Gruppe von Motorradfahrern. Dänen, Holländer, Deutsche und eine dreiköpfige italienische Familie, verteilt auf zwei Harley Sportster, genießt die Pause vom Regen und man findet schnell zusammen. Da werde ich direkt wehmütig angesichts der eigenen, diesjährigen zurückhaltenden Fahrtenplanung. Aber einerseits startet in diesem Sommer eine ganz andere Art der Reise und andererseits gibt es ja noch lange nachschwingende Kurzreisen wie diese.



Text und Fotos Andreas Thier 06/2011